von Mathew George (FOR Indien), 9. August 2020
Das Wort „Frieden“ ist tief mit Philosophie und Realität verbunden.
Die Realität im Jetzt
Es regnet stark – Erdrutsche, überflutete Häuser und Tod, Verletzungen und Zerstörungen werden live übertragen.
Die Infektionen aufgrund der Pandemie haben in Indien über 50 000 Fälle pro Woche erreicht und bald werden wir die Zwei Millionen–Marke an Covid19 Erkrankten überschreiten.
Die Regierung hat Air India Flüge organisiert, um im Ausland gestrandete Arbeitsmigrant*innen und Tourist*innen zurück nach Indien zu bringen. Ein solcher Flug ging von Dubai nach Kaliko und brach bei der Landung auseinander. Details dieses Unfalls und Bilder der Toten und Verletzen zirkulieren in den Medien.
Hinzu kommt, dass die Explosion von Ammoniumnitrat Containern in Beirut, die von der libanesischen Regierung sichergestellt wurden, die Verluste an Menschenleben und die Zerstörung von Häusern sowie die Aussagen führender Politiker*innen mit Schmerz und Sorge betrachtet werden. Wir stellen mit Entsetzen fest, dass in Indien seit Fünf Jahren vom Zoll beschlagnahmtes Ammoniumnitrat in Containern öffentlich an einem stark bevölkerten Ort in Chennai gelagert wurde. Erst nach der Explosion in Beirut verordneten indische Autoritäten die Verlagerung der Container an eine gesicherte, isolierte Stelle.
Der Lockdown dauert an.
Menschenrechte
Menschenrechte inklusive persönlicher und ökonomischer Freiheiten sind für viele Menschen in Indien anstrebenswert. Ob diese Aspirationen realisierbar und gerechtfertigt sind, ist Gegenstand vieler Debatten von Führungskräften und Konferenzteilnehmer*innen, und auch wenn die Meinungen auseinandergehen, so bleibt die Realität dieselbe – persönliche und ökonomische Freiheiten bleiben immer noch das Ziel.
Vor dem IFOR Council (Int. Treffen der Versöhnungsbund-Zweige) 2018 in Italien fand eine Konferenz zu Migration statt. Die Themen der Redner*innen und die Interaktionen zwischen den Teilnehmer*innen aus den weniger entwickelten Länden und denen aus der entwickelten Welt offenbarten die vielfältigen Probleme rund um Migration. Gäbe es Migration in andere Länder mit so großen Risiken für die Betroffenen, wenn in den Ursprungsländern Lebensmöglichkeiten vorhanden wären und Menschenrechte respektiert würden? Es wurde offensichtlich, dass Migration mit Rassismus, Religion, ethnischer Identität, Geschlecht, Armut, Ressourcennutzung, Regierungsführung und ideologischen Unterschieden sowie mit vielen anderen Faktoren in Verbindung steht. Bei persönlichen Gesprächen mit betroffenen Migranten*innen zeigten sich Ähnlichkeiten mit jenen Ländern, die mit eigenen Migrationsproblemen konfrontiert sind.
In Indien sind 93% der Wirtschaft im informellen Sektor und die Arbeitskräfte kommen aus demselben oder aus anderen Bundesstaaten Indiens. Diese fallen nicht unter das sogenannte „Industrial Disputes Act“ und haben weder Anspruch auf Entschädigung noch auf andere Unterstützungen. Die Ankündigung des Lockdowns traf diese Arbeitsmigrant*innen am schlimmsten, aber die Bilder die die Medien von Wanderarbeiter*innen zeigten, die zu Fuß in ihre Dörfer zurückkehrten, gehören der Vergangenheit an, da die meisten Migranten*innen, die zurückkehren wollten, inzwischen zurückgekehrt sind. Jetzt kehrt eine Vielzahl von Arbeitsmigrant*innen mit von der Regierung organisierten Flügen nach Indien zurück.
Armut betrifft die Menschen in Indien umfassend. Die Arbeiterklasse macht sich nicht so viele Sorgen über Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, weil diese häufige, unwillkommene Gäste bei ihnen sind. Die Geduld, ein Leben am Rande des Hungers zu führen, wird durch den Glauben an die religiösen Gottheiten erhalten. Jetzt wird diese Geduld weiter getestet. Das erste, was in der Arbeitslosigkeit passiert, ist die Reduzierung der Nahrung: Milch, Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch sind außer Reichweite. In der zweiten Phase wird der Konsum von Lebensmittel reduziert. Nun haben viele Familien die dritte Phase, erreicht wo die Menge wie auch die Zahl der täglichen Mahlzeiten reduziert werden. Indien ist Teil der Statistik geworden und eine von den Vereinten Nationen veröffentlichte Universitätsstudie vom Juni 2020, „Prekarität und Pandemie“, sowie der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für extreme Armut und Menschenrechte, Philip Alston, verweisen auf die Tiefe der Hungerkrise aufgrund der Vernichtung von Lebensgrundlagen.
Indien ist ein Land mit 1300 Millionen Menschen, etwa 300-350 Millionen davon bilden die Mittelschicht und verdienen ein Gehalt zwischen 3600 und 18000 US Dollar. Es ist diese Mittelschicht in Indien, deren Konsum von Gütern und Dienstleistungen den Markt unterstützt. Wie jedes andere Land hat auch Indien seine Reichen und Superreichen, die einen Bruchteil eines Prozentes ausmachen und fast 70% des Wohlstands kontrollieren.
Menschenrechte als Begriff bedeutet Unterschiedliches für die verschiedenen Klassen. Die indische Verfassung gewährt allen Bürger*innen fundamentale Rechte und ökonomische wie persönliche Freiheiten. Gesetzlich hat jeder die gleichen Rechte. Jedoch bedeuten diese Rechte wenig für all jene, die in Armut leben.
Hohe Regierungskosten aufgrund einer aufgeblähten politischen Klasse, Bürokratie und Sicherheitsbehörden, und die Kosten von Regierungskommunikation, Kontrolle und Regulierungen haben zu weniger Ausgaben für die Unterstützung und Wohlfahrt der Schwächeren geführt.
Die verblassten Grenzen zwischen den politischen Parteien und die Abwesenheit einer bestimmten Ideologie führen zu Unterscheidungsdefiziten und es fehlt an Wettbewerb und Rechenschaft. Aus diesem Grund üben Eliten, Interessensgruppen, Unternehmen, Fach- und internationale Gremien einen unangemessenen Einfluss auf politische Entscheidungen aus. Protektion, Vetternwirtschaft, Korruption und Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen sind bekannte Hindernisse.
Eine gute Regierungsführung kann zu Investitionen in vorrangigen Bereichen wie Gesundheit, Wohnen und Bildung führen und den politischen Willen erzeugen, um die Kosten für Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden zu senken.
Sowie in den USA ein Aufschrei „Black lives Matter“ zu hören ist, so hört man in vielen Teilen Indiens einen zaghaften Schrei, dass in Demokratien Menschen Bürger*innen sind und nicht Untertanen.
Die Slogans der Französischen Revolution für Gleichheit, Geschwisterlichkeit und Freiheit, die vier Freiheiten des vierfachen Präsidenten der USA, Roosevelt – freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Angst – und alle Konventionen der Vereinten Nationen für Menschenrechte, gegen Rassismus und die Diskriminierung von Frauen haben keinen Einfluss auf das Leben der Mehrheit in Indien, obwohl unsere Gesetze durch diese Slogans, Äußerungen und Konventionen geprägt wurden.
Inmitten dieser Pandemie stellt sich die Frage: „Was ist die neue Normalität?“
Übersetzung: Alina Chattha