Gelebte Gewaltfreiheit

25jähriges Jubiläum der Friedensgemeinde San José de Apartadó

25-Jahre-Friedensgemeinde-Transparente
Transparente für 25 Jahre Friedensgemeinde

„Lasst uns alle einander unterstützen, um die Werte der Menschheit zu retten. Lasst uns alle vorwärts gehen, mit Zuneigung und viel Liebe, mit euren und unseren Lieben und der ganzen Menschheit. Alle Bauern und Bäuerinnen, lasst uns die Gemeinschaft des Friedens, die Rechte und die Freiheit der Menschen stärken.“

23. März 2022, morgens in San Josecito (dem Hauptort der Friedensgemeinde): Die Mitglieder der Gemeinde sowie ehemalige und aktuelle internationale und nationale Begleiter*innen und Freunde*innen werden von der Hymne der Friedensgemeinde geweckt. Dann beginnt der Feiertag mit einem gemeinsamen Frühstück im Restaurant der Gemeinde. Delegierte von fünf  Botschaften (Österreich, Deutschland, Belgien, Schweden und Kanada) treffen ein. Ohne Bodyguards, ohne Waffen in der Nähe, begleitet von der Friedensgemeinde, internationalen Begleitgruppen und Gästen – getreu einem der gewaltfreien Prinzipien der Gemeinde: NEIN zu bewaffnetem Schutz, JA zur Gemeinschaft als Schutz.

„Erinnerungen haben ist ein Versprechen an die Zukunft“

Gemeinsam marschiert die Feiergesellschaft in Richtung La Roncona, einem Stück Land, auf dem die Friedensgemeinde seit ihren Anfängen arbeitet. „Für uns ist das nicht nur ein Stück Land, es hat uns Nahrung und Unterkunft gegeben, als wir unser Land verlassen mussten. Es bedeutet Leben für uns“, erinnern sich die Mitglieder der Gemeinde. Die Botschaftsvertreter*innen und die Begleitpersonen pflanzen Bäume – und damit Leben – in Roncona.

Die nächste Station ist das Kakaolager der Gemeinde, wo die „Öffentliche Erklärung der Friedensgemeinde“ vom 23. März 1997 verlesen wird. Die Arbeit in der Gemeinschaft sowie die Nulltoleranz gegenüber Menschenrechtsverletzungen und der Widerstand gegen die Straflosigkeit sind wesentliche Grundsätze der Friedensgemeinde, die zur Autonomie und zu internationalen Schutzmaßnahmen beigetragen haben.

Beim abschließenden Halt unter dem Palmendach des Gemeinschaftshauses werden Erfahrungen und Schwierigkeiten des Überlebens inmitten der anhaltenden Gewalt auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene ausgetauscht. Die Friedensgemeinde zählt mehr als 300 außergerichtliche Hinrichtungen und berichtet von unzähligen  Menschenrechtsverletzungen.

25 Jahre nach ihrer Gründung setzt die Friedensgemeinde ihren gewaltfreien Kampf fort und ist ein lebendiges Beispiel dafür, dass es möglich ist Alternativen zur Gewalt zu leben.

Michaela Söllinger,
Versöhnungsbund-Friedensfachkraft in Kolumbien

Aus dem Kommuniqué der Friedensgemeinde San Jose de Apartadó vom 1. April 2022

Rückschau auf ein Vierteljahrhundert

Am 23. März beging unsere Friedensgemeinschaft ihr 25-jähriges Bestehen. Am 23. März 1997 wurde in Anwesenheit und in Begleitung des Bischofs von Apartadó, Monsignore Tulio Duque Gutiérrez, und von Mitgliedern des Europäischen Parlaments in der kleinen Schule von San José de Apartadó unsere „Öffentliche Erklärung der Friedensgemeinschaft“ verkündet. Ziel war es, dass der Staat und alle bewaffneten Akteure ihre Bemühungen einstellen, die Zivilbevölkerung in den Krieg zu verwickeln. Diese Strategie ist jedoch in den geheimen Instruktionen festgelegt, die der Staat seit den 1960er Jahren erstellt hat und die gegen alle internationalen Normen für bewaffnete Konflikte verstoßen.

Der Staat zog es vor, seinen kriminellen Weg zu gehen und bombardierte als Antwort auf unsere Erklärung 27 der 32 Dörfer von San José. Gleichzeitig bekamen die Paramilitärs den Befehl, alle noch bewohnten Dörfer aufzusuchen und die Bewohner*innen darüber zu informieren, dass sie innerhalb von vier Tagen die Region verlassen müssen, wenn sie nicht sterben wollten.

Im vergangenen Vierteljahrhundert haben wir mindestens 307 außergerichtliche Hinrichtungen in unserem Gebiet gezählt. Davon fanden 53 im Vorfeld der Gründung unserer Gemeinschaft statt. Weitere 194 Menschen starben in den ersten 21 Jahren des friedlichen Widerstands, von denen 138 formelle Mitglieder unserer Gemeinschaft waren und 56 aus dem familiären und sozialen Umfeld stammten. Die FARC-EP hat in diesem Zeitraum 46 Bauern aus der Region getötet, darunter 18 Mitglieder unserer Gemeinschaft und 28 aus unserem sozialen Umfeld. Über die übrigen 14 haben wir wegen des Terrors und der Vertreibungen nur unsichere Informationen. 

Geburtstagstorte in der Friedensgemeinde

Aber abgesehen von den zerstörten Leben hat unsere Gemeinschaft alle Arten von Gewalt und Demütigung erlitten, mehr als 1500 Taten, die die Jurist*innen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen, da sie nicht nur ihre individuellen Opfer verletzen, sondern sich gegen die Menschheit als solche richten: gewaltsames Verschwindenlassen, Folter, Vertreibungen, wahllose bewaffnete Angriffe,  Freiheitsberaubung, juristische Farcen, Zwangsumsiedlungen, Hungerbelagerungen, illegale Volkszählungen, Besetzung von Privatgrundstücken, Brandstiftung an Häusern und Ernten, Diebstahl und Zerstörung von Haustieren, Vieh und Lebensmitteln, sexueller Missbrauch, Leichenschändung, Verleumdung, Diffamierung, Stigmatisierung, Falschinformationen, Drohungen, Knebelung oder Versuche, Strafanzeigen durch verfassungswidrige juristische Schritte zu unterbinden.

Obwohl die Interamerikanische Kommission und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte fast von Anfang an auf Maßnahmen zu unserem Schutz gedrungen haben, sind Jahrzehnte vergangen, ohne dass der kolumbianische Staat ihren Anordnungen Folge geleistet hat. Auch das Verfassungsgericht wurde verhöhnt, indem drei seiner Urteile in der Sache und mehrere seiner Folgebeschlüsse missachtet wurden. Aber es scheint, dass sich das Gericht nicht um die Missachtung seiner eigenen Sprüche kümmert, was das schreckliche Chaos erklärt, das Kolumbien erlebt. Der Internationale Strafgerichtshof eröffnete 2006 die Akte über unsere Friedensgemeinschaft. Wir sind sicher, dass alle 1500 angezeigten Verbrechen die vom Römischen Statut geforderte Systematik und Schwere aufweisen (Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs mit Sitz in Den Haag, Anm. d. Ü.) und dass die mehr als 90 Dokumente, die wir den Staatschefs geschickt haben, die Verwicklung derjenigen aufzeigen, die nach unserer Verfassung für diese Verbrechen die Verantwortung tragen. Nun heißt es, dass diese Taten im Rahmen der Sondergerichtsbarkeit, die das Friedensabkommen von 2016 vorsieht, behandelt werden sollen. Das ist jedoch falsch, weil das Friedensabkommen Strafnachlass nur für jene Täter*innen vorsieht, die gestehen und damit zur Aufklärung konkreter Verbrechen während des bewaffneten Konfliktes beitragen wollen. Worum es bei uns jedoch geht: Die Angriffe eines Bewaffneten gegen einen Unbewaffneten können unmöglich als Kampfhandlung des bewaffneten Konfliktes betrachtet werden – es sei denn aufgrund von schweren Manipulationen und üblen Absichten.  

Wir haben 25 Jahre lang durchgehalten, wir werden bedroht, wir haben die bittere Erfahrung der  Vernichtungsmethoden gemacht, die der Staat in dieser Zeit gegen uns angewandt hat: die physische Ausrottung durch Ermordung; die ideologische Stigmatisierung, bei der uns selbst der Präsident Kolumbiens als „Guerilla-Hilfstruppen“ bezeichnete; die Herabwürdigung durch die Medien, sowohl Presse, Fernsehen als auch Radio; die biologische Ausrottung durch Hungerbelagerungen, die juristische Kriminalisierung, die Feldzüge des Justizapparats  mit falschen Beweisen und falschen Zeugen; die soziale Ausgrenzung, bei der der Gemeinschaft auch geringste Haushaltsmittel verweigert werden, auf die sie aufgrund ihres Steuer-Beitrags Anspruch hat; das Angebot geringfügiger Zahlungen an die Angehörigen von Verbrechensopfern, damit sie auf juristische Schritte verzichten.

Unser Festtag

Unser 25. Jahrestag war eine schlichte, eintägige Feier. Wir wurden von fünf Delegierten der diplomatischen Dienste in Kolumbien begleitet: Deutschland, Österreich, Belgien, Kanada und Schweden. Als sie ankamen, schlossen sie sich einem Marsch an, der von La Roncona ausging, von dem unsere Gemeinschaft in den letzten zwei Jahrzehnten einen großen Teil ihrer Nahrungsmittel gewonnen hat und das man uns nun mit absurden Interpretationen des Landgesetzes wegnehmen will. Dort erfreuten uns die Delegierten der Botschaften mit einer schönen Geste der Solidarität, indem sie einige Obstbäume pflanzten.  Dann wurde an dem Ort der Tragödie, an dem Paramilitärs aus dem Ortsteil San José mit Waffen eintrafen, um am 29. Dezember 2017 den Rechtsvertreter der Gemeinschaft und andere Mitglieder des Internen Rates zu ermorden, die Einleitung der vor 25 Jahren verkündeten Erklärung verlesen. Anschließend wurden im zentralen Gebäude von San Josecito einige Ausstellungen über unsere Geschichte und unsere Probleme gezeigt. Wir haben Botschaften von zahlreichen Gemeinden gehört, die das Ereignis von weit her verfolgten. Die 25 Geburtstagskuchen waren schnell aufgegessen, und wir haben das Fest ausführlich fotografisch dokumentiert.

Theater- und Musikgruppen und alte Freund*innen begleiteten uns an einem Tag, der Teil des Gedenkens an dieses Lebens- und Widerstandsprojekt ist. Wir haben nicht die Absicht aufzugeben, selbst unter Einsatz des Lebens. Wir harren aus, weil wir davon überzeugt sind, dass jede andere Alternative eine Preisgabe von Prinzipien bedeutet, die uns ihre Gültigkeit und ihre Wahrhaftigkeit bewiesen haben.

Mit erneuter Dankbarkeit, nachdem wir auf unsere Geschichte zurückgeblickt haben, grüßen wir all diejenigen, die uns aus den entferntesten Winkeln Kolumbiens und der Welt begleitet, ermutigt und unterstützt haben, ohne uns zögern zu lassen.

Übersetzung: Wolfgang Kunath und Beate Francke-Kern