Palestina, Huila, Kolumbien: 40 Jahre Suche nach den Verschwundenen

Wir stehen am Eingang von Palestina, Huila – einer kleinen Gemeinde im Süden Kolumbiens, eingebettet in den Macizo Colombiano, eine ausgedehnte geografische Region, in der viele der wichtigsten Flüsse und zentralen Gebirgszüge Kolumbiens entspringen. Gemeinsam mit Delegierten verschiedenster Gemeinden, die selbst Opfer des kolumbianischen Konflikts sind, gedenken wir der Vergangenheit. Wie sie wurden wir von der Familie Chimonja Coy und Conpazcol, einem Netzwerk verschiedener Friedensinitiativen, eingeladen, anlässlich des Internationalen Tages für die Opfer des Verschwindenlassens der Verschwundenen der Region zu gedenken. 

Nach Angaben der Wahrheitskommission gab es zwischen 1985 und 2016 landesweit 121.768 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen.

Einige sind mit dem Fahrrad angereist und fahren langsam durch die Gemeinde, um auf die, die verschwunden wurden, aufmerksam zu machen

Das Treffen findet nicht nur statt, um der Vergangenheit zu gedenken, sondern auch, um die Fortschritte, die auf dem Weg zu einem friedlicheren Land gemacht worden sind, zu feiern. Seit dem Verschwinden von Tulio Enrique Chimonja und Libia Astudilla Chimonja vor 40 Jahren hat sich viel getan:

Ein großes, buntes Wandgemälde markiert den Eingang von Palestina. In weißen Buchstaben steht der Satz: Biodiverses und friedliches Gebiet. Wir werden von zwei Mitgliedern der Gemeinschaft, beide Opfer des bewaffneten Konflikts, zu dem Wandbild geführt.

„Dieses Wandbild wurde von Familien in Palestina zum Gedenken an die Opfer errichtet, damit sie nicht vergessen werden, und auch nicht die, die gegenwärtig Opfer des Konflikts sind„, erklären sie uns.

„Die Opfer in Palestina haben den Bericht für die Wahrheitskommission auf der Grundlage der Fakten, die die Menschen zu Opfern machten, geschrieben. Als Abschluss des Prozesses wurde dieses Wandbild angefertigt. Und das Wandbild zeigt“, sagen sie und zeigen auf die weißen Buchstaben, „unseren Traum von einem biodiversen und friedlichen Territorium“.

Das Macizo Colombiano ist ein einzigartiges und empfindliches Ökosystems, wo die wichtigsten Flusssysteme Kolumbiens entspringen. Von hier aus schlängeln sich die Flüsse quer durch das Land, wo sie in den Atlantik und den Pazifik münden. In dieser Region wurde der erste Nationalpark des Landes gegründet, Cuevas de los Guácharos, benannt nach dem Guácharo (Fettschwalm), der sich durch sein braunes Gefieder und seine weißen Flecken auszeichnet. Dieser Vogel ist zum Protagonisten dieser beiden Tage der Erinnerung und Versöhnung geworden.

Auf dem Bauernhof der Familie Chimonja Coy treffen sich die lokalen Basisgruppen mit internationalen Begleiter:innen, Vertreter:innen des Innenministeriums, des Nationalen Zentrums für historische Erinnerung, Unterzeichner:innen des Friedensabkommens von 2016 (ehemalige FARC-EP-Guerrillakämpfer:innen) und Vertreter:innen der Stiftung “Hasta Encontrarlos“, die sich für Vertriebene einsetzt.

Im Halbdunkel des Mondes tauschen Familienangehörige und Freund:innen, von denen viele die Ermordung und das Verschwindenlassen von Menschen miterlebt haben – von der Zunahme der Gewalt in den 80er-Jahren bis zum Völkermord an der Partei Union Patriotica – ihre Erinnerungen an die Opfer aus und denken an die, die immer noch ihre verschwundenen Angehörigen suchen.

Am zweiten Tag besuchen wir La Esperanza, ein privates Naturschutzgebiet, das die Familie Chimonja Coy zur Wiederherstellung und Versöhnung während der letzten 40 Jahren geschaffen hat. Von den insgesamt 15 Hektar werden nur noch 3 Hektar bewirtschaftet. Die restliche Fläche wurde in ein Naturreservat umgewandelt – ein Wald voller Bäume, die gepflanzt wurden, um derer zu gedenken, die zum Verschwinden gebracht oder getötet wurden, und um den Fortbestand des Lebens zu feiern. Um das Leben zu feiern, erhalten alle Delegationsmitglieder Setzlinge – Bäume des Lebens – die sie im Naturschutzgebiet pflanzen, um es weiter zu vergrößern.

Wir hoffen, dass diese Bäume Früchte für den Guáchero tragen, den Hauptdarsteller dieses Treffens, der auch dem von den Opfern Palestinas verfassten Bericht „Die Wahrheit über unsere Vögel, Los Guácharos, Erinnerung an die Flucht in einem biodiversen Gebiet“ seinen Namen gab. Der Bericht wurde während der Veranstaltung dem Nationalen Zentrum für historische Erinnerung übergeben.

Wir werden zur Enthüllung eines neuen Denkmals für Verschwundene gebracht, das den Guácharo selbst hervorhebt. Einer der Friedensunterzeichner erklärt seine Bedeutung:

„Die Guácharos tun etwas, das dem, was wir im Moment tun, nämlich alles zu zerstören, sehr entgegengesetzt ist. Sie wandern weit, um Nahrung zu finden, aber gleichzeitig säen sie Samen. Wenn man in eine Guácharo-Höhle geht, findet man immer viele kleine Setzlinge, weil sie sie ‚gepflanzt‘ haben. Wir müssen von ihnen lernen.“

Michaela, September 2023