Unsicherheiten: Kolumbien während der COVID-19-Quarantäne

aus Sicht mehrerer Menschenrechtsverteidiger*innen

Zur Nachlese des von FOR Peace Presence am 25. April 2020 veranstalteten Webinars zum Thema COVID-19-Pandemie und die Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen und ihrer Arbeit in Kolumbien. Der Blogbeitrag ist ein Versuch, einige Eindrücke des Webinars weiterzugeben und keineswegs vollständig. Das gesamte Webinar (englisch und spanisch) können Sie unter folgendem Link nachsehen:

***Link Webinar Aufzeichnung mit Bild https://www.youtube.com/watch?v=ebhOmTBl8DM****

Die Sprecher*innen

Als Sprecher*innen war eine bunte kolumbianische Mischung geladen.

Nidiria Ruíz ist eine junge afrokolumbianische Menschenrechtsverteidigerin, Frauenrechtlerin und Vertreterin verschiedener Kriegsopferorganisationen der Pazifikregion. Sie lebt im ländlich strukturierten Naya-Flussbecken, das seit vielen Jahren unter dem bewaffneten Konflikt leidet, und unter anderem als Korridor für illegale Produkte wie Drogen und Waffen verwendet wird.

Willian Aljure, ist Nachkomme von Guerillaanführern mit arabischen Wurzeln, die in den 50er-Jahren einen Friedensvertrag unterzeichneten, jedoch nie vollständig das ihnen darin versprochene Land in den Ebenen im Südosten Kolumbiens, Meta, Mapiripan, in Anspruch nehmen konnten, da sie und ihre Familien von Paramilitärs und auch von Guerillagruppen verfolgt und so viele Familienmitglieder Willians getötet wurden. Willian widmet sein Leben seit vielen Jahren dem gewaltfreien Kampf für sein Land, das unter anderem von Palmölfirmen besetzt ist, für Land für umliegende Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und Landlose, für Umweltschutz und für Versöhnung zwischen den Konfliktparteien und Opfern.

Omar de Jesús Restrepo stammt aus einer Kleinbauernfamilie und schloss sich nach der Vertreibung seiner Familie durch Paramilitärs mit 16 Jahren der Guerillagruppe FARC- EP an.  Seit 2012, als er für die Friedensverhandlungen zwischen Regierung und FARC-EP nach Havanna reiste, kämpft er mit Worten für die Rechte der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, Arbeiter*innen und die seit 2016 demobilisierten ehemaligen FARC-EP Soldat*innen.  Zurzeit vertritt er für die nach den Friedensprozessen gegründete Partei  der ehemaligen Guerillaorganisation das Departement Antioquia.

Unsicherheiten

Alle drei Sprecher*innen, die aus sehr unterschiedlichen Teilen und soziografischen Gruppen kommen, haben sich seit Jahren für die Formulierung, Unterzeichnung und Umsetzung der Friedensverträge zwischen der Regierung und der FARC-EP eingesetzt. Drei Jahre nach der Unterzeichnung ist die Ernüchterung sehr groß. Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie und die Maßnahmen, die die nationale Regierung gesetzt hat, verstärken die Auswirkungen der historischen sozialen Ungleichheiten und der mangelnden Umsetzung der Friedensverträge von 2016.

„Wenn die Friedensverträge und unsere Rechte vor der Pandemie nicht eingehalten wurden, stellen Sie sich vor, wie das dann während der Pandemie aussieht!“, betont Willian.

Nidiria antwortet auf die Frage, wie sich die Pandemie in ihrer Region auswirke, mit „Unsicherheit“. Diese Unsicherheit hat viele Dimensionen.

Blanquita_Murri Blick auf das Dorf

Was passiert, wenn durch die nationale Quarantäne keine Lebensmittel mehr in das Naya- Flussbecken kommen? Der Punkt 1 der Friedensverträge von 2016, eine Landreform und territoriale Entwicklungspläne, die die von den Regionen geforderte Ernährungssouveränität bringen sollten, ist noch nicht umgesetzt worden. Es sind noch nicht  einmal annähernd genug zu vergebende Landstücke von der Regierung identifiziert worden.

Was passiert, wenn sich COVID-19-Infektionen im Naya-Flussbecken ausbreiten? Es gibt keine entsprechende Gesundheitsinfrastruktur.  Das gilt nicht nur für den Fluss Naya, sondern für die meisten ländlichen und vorstädtischen Gebiete Kolumbiens. Omar streicht diesbezüglich v.a. die Wiedereingliederungszentren für ehemalige Guerillakämpfer*innen und auch die Gefängnisse heraus. Ein Ausbruch von COVID-19-Infektionen würde nicht nur die Zentren selbst, sondern auch die Gemeinden, die die ehemaligen Soldat*innen aufgenommen haben, hart treffen, da sie keine entsprechende Gesundheitsversorgung und Ambulanzen, geschweige denn Tests, haben.

Was passiert, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, der Lebensraum geschützt werden muss?  Die Form, in der sich die verschiedenen Menschenrechtsorganisationen und Gemeinden organisieren, beraten, schützen, entscheiden, ihre Rechte einfordern, ist durch die Maßnahmen der Regierung (Anm. d. R.: Man kann eigentlich von einer nationalen Ausgangssperre sprechen. Für Lebensmitteleinkäufe werden den Personen über die  ID-Nummern bestimmte Tage zugewiesen.) verunmöglicht worden. Handys, vor allem mit Internetzugang, sind in den ländlichen Gebieten keine Selbstverständlichkeit und Internetverbindung gibt es nur punktuell.[1]

Umso mehr Unsicherheit bringt daher der Vorschlag der kolumbianischen Innenministerin, auf Grund der COVID-19 bedingten Bewegungseinschränkungen „Befragungen zu Projekten“ (consulta prévia) virtuell durchzuführen. Diese Befragungen müssen in Lebensräumen ethnischer Gruppen durchgeführt werden, wenn Unternehmen Projekte, die einen Einfluss auf den Lebensraum haben könnten, wie z.B. Bergbau, Monokulturen, Holzschlag, etc.,  planen. Diese Befragungen müssen jedoch so durchgeführt werden, dass die betroffene Bevölkerung vorher ausreichend informiert wird und die Art der Befragung ihrer Tradition entspricht.  Wie kann eine virtuelle Befragung dem entsprechen? Wie repräsentativ wäre das Ergebnis? Während sich die Bevölkerung nicht bewegen darf, scheint sich auf  wirtschaftspolitischer Ebene einiges zu bewegen.

Nicht nur der Lebensraum der afrokolumbianischen und indigenen Bevölkerung des Naya-Flusses wäre davon betroffen, sondern zum Beispiel auch Meta, Mapiripan, wo Willian lebt. Die nationale Wirtschaftsvertretung der Palmölindustrie habe bereits Interesse an der virtuellen Durchführung dieser Befragungen angemeldet. Ein Teil des Landes, das Willian beansprucht, ist,  wie viele Landstriche um Mapiripan, nach der Flucht der Bevölkerung vor den bewaffneten Gruppen mit teils ganz jungen Ölpalmmonokulturen von internationalen Unternehmen bepflanzt.

Auch auf lokaler Ebene wird von unterschiedlichen Bewegungseinschränkungen berichtet. Willian berichtet, dass Arbeiter der Ölpalmfirmen in vollen Bussen, ohne Mundnasenschutz oder andere national verordnete Maßnahmen unbehelligt durch Mapiripan transportiert werden, während die Ausgangsperre und Schutzmaßnahmen bei der restlichen lokalen Bevölkerung von Polizei und Militär streng kontrolliert wird und Verstöße geahndet werden.

Auch die Unsicherheit im Sinne einer Bedrohung der physischen und psychischen Integrität auf Grund der anhaltenden Gewalt unter anderem gegen Menschenrechtsverteidiger*innen wird in vielen Gebieten durch die wohl selektiv rigorosen Bewegungseinschränkungen verstärkt. Wohin und wie fliehen, wenn man nicht „weg“ darf? Omar erwähnt als Beispiel Ituango, Antioquia. Ungefähr 800 Personen, ehemaligen FARC-Soldat*innen und deren Familienangehörige stehen kurz vor der Flucht, nachdem Mitglieder der Gemeinschaft bedroht oder getötet wurden. Ein weiteres Beispiel aus dem Gebiet Nidirias wurde in den letzten Tagen bekannt. Im Oberlauf des Flusses Naya wurden mehrere Menschen von bewaffneten Gruppen getötet. Mehrere Familien der Gemeinschaft sind auf der Flucht.

Während des Webinars kehren die Sprecher*innen immer wieder auf die Dringlichkeit einer umfassenden Landreform und der Implementierung der Friedensverträge  im Allgemeinen zurück. Darunter fallen auch die Aufdeckung und Auflösung neoparamilitärischer Gruppen, die Umsetzung des Plans zum freiwilligen Umstieg von Kleinbauern vom Drogenanbau auf legale Agrarprodukte, und die Umsetzung der von den Gemeinden selbst bestimmten regionalen Entwicklungspläne – mit oder ohne COVID-19 Pandemie und den begleitenden Maßnahmen.

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[1] Das Webinar abzuhalten war aus diesem Grunde für Willian und Nidiria eine logistische Herausforderung und gleichzeitig sehr wichtig.