Tabuisierte Opfer des Nationalsozialismus
und deren Rehabilitierung
Dr. Josef MOSER, Bundesminister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz hatte am 10. Dezember 2018, dem 70. Jahrestag der Deklaration der Menschenrechte, im Großen Festsaal des Palais Trautson zu einer Gedenkveranstaltung geladen. Spezielles Thema: „Tabuisierte Opfer des Nationalsozialismus und deren Rehabilitierung“.
Zentral war die Präsentation des Buches „Das Selbstverständliche tun. Die Salzburger Bäuerin Maria Etzer und ihr verbotener Einsatz für Fremde im Nationalsozialismus”.
Es sprachen der Bundesminister, sein Generalsekretär Sektionschef Mag. Christian Pilnacek und anschließend die Autorin des Buchs Dr. Maria Prieler-Woldan.
Die Diffamierung vieler dieser vergessenen Opfer der NS-Justiz dauert bis heute an, insofern sie nicht rehabilitiert sind. Umso wichtiger ist die Öffentlichmachung von Beispielen erfolgreicher Erinnerungsarbeit, zum Beispiel durch diese Veranstaltung, damit auch weitere Nachkommen ermutigt werden, diesen „vergessenen Opfern ihrer Zivilcourage“ nachzufragen, um eine posthume Rehabilitierung durch die Republik vorzubereiten. Viele sagen, dies sei nebensächlich, weil es wichtigere Dinge zu tun gibt. Auch die Begründung der einstigen Ablehnung ihres Ansuchens um eine Opferfürsorgerente durch das Innenministerium, Maria Etzer habe nicht für ein freies demokratisches Österreich gekämpft, kann nicht akzeptiert werden: Wer in Zeiten der Unmenschlichkeit menschlich handelt, leistet Widerstand.
Univ.-Prof.Mag. DDr. Oliver Rathkolb stellte die Verfolgung des Delikts „Wehrkraftzersetzung“ durch verbotenen Umgang mit Fremden = Feinden, im konkreten Fall mit einem französischen Zwangsarbeiter, in einen größeren Zusammenhang. LStA i.R: Mag. Viktor Eggert referierte über die Entwicklung der Rehabilitierungsgesetzgebung in Österreich, deren bisher letzter Schritt die Rehabilitierung der Wehrdienstverweigerer und Deserteure war. Die Tochter des einstigen Goldegger Deserteurs Karl Rupitsch, der in Mauthausen ermordet wurde, hat 2012 die Rehabilitierung ihres Vaters erreicht, sie war bei der Veranstaltung anwesend.
Hier die kurze Rede von Brigitte Menne, einer Enkelin von Maria Etzer, die sich über die Rehabilitierung ihrer Großmutter im Herbst 2018 freut: Diese war „wegen verbotenen Umganges mit Kriegsgefangenen“ 1943 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden: Die schlechte Nachrede ihrer Großmutter als „Zuchthäuslerin“ bis 58 Jahre nach ihrem Tod, nicht nur in ihrem Dorf, auch in der Familie, ist nunmehr haltlos.
Elisabeth Fritsch
Rede von Brigitte Menne
Wien, 10. Dezember 2018
Ich bedanke mich, dass ich hier als Nachfahrin einer NS-Verfolgten die Gelegenheit habe ein paar Worte über den Wert von Erinnerungsarbeit zu sagen.
Wie wir gesehen haben, genügte es nicht, nur die Trümmer der Vergangenheit aus den Augen und aus dem Sinn zu räumen. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, herrschte Schweigen, alles Sinnen und Trachten war nach vorne gerichtet, „nur nicht zurückschauen“ war die Devise. Am besten sich abschütteln und so tun, als ob nichts gewesen wäre. Es war eine prekäre Weise sich belastender Dinge und erlittener Traumata zu entledigen: So aber kriegt man sie nicht los. Nach außen hin war bald wieder alles tadellos aufgeräumt, aber die Minenfelder in den Seelen der Aufbaugeneration waren nicht aus der Welt geschafft. Darüber konnte kein Gras wachsen.
Heute wissen wir: Es hört nie auf.
Heute wissen wir: Es hört nie auf. Der Zivilisationsbruch des zweiten Weltkriegs, die Shoa, damit müssen wir – solange es ein Menschen-denken und Menschengedenken gibt – leben! Dafür sind wir heute hier, dass wir zum hunderttausendsten Mal, und nie genug, dafür Worte finden.
Es braucht beides: das öffentliche Gedenken, wie es hier in einem vornehmen Rahmen mit prominenten Vertreter*innen der Öffentlichkeit stattfindet. Und es braucht die beinharte und schmerzhafte Erinnerungsarbeit in den Familien. Letztere, die Erinnerungsarbeit in den Familien, kann wiederum die Justiz anregen, nämlich vergessene Opfer zur Kenntnis zu nehmen und ihre Widerstandshandlungen durch Rehabilitierung posthum zu würdigen. Andererseits haben öffentliche Gedenkfeiern wie diese durch ihre mediale Verbreitung eine hohe Strahlkraft. Öffentliche Gedenkfeiern gehen nicht beim einen Ohr hinein und beim anderen hinaus, sie haben Vorbildwirkung bis in die tiefste Provinz. Sie können dort neuerdings Erinnerungsarbeit anregen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Dann gibt es wieder Fortschritte im öffentlichen Gedenken – und so fort.
Meine Großmutter Maria Etzer war eines der vergessenen „Opfer des verbotenen Umgangs“, sie war betriebsführende Bäuerin in Goldegg.
Sie war im Frauen-Zuchthaus in Aichach. Sie war dort bei den „Politischen“. „Franzosenliebchen“ wurde sie genannt. Was hat sie nicht alles ausgestanden. Denunziation wahrscheinlich durch eine ihrer Töchter. Anzeige durch den Nachbarn. Prügel. Durch Folter erpresste Geständnisse. Zuchthaus. Schwere Zwangsarbeit. Hunger. Demütigungen auch nach ihrer Heimkehr.
Ich habe immer gesagt, nicht nur vergessen war sie – sie wurde vergessen gemacht. Warum das?
Ich habe immer gesagt, nicht nur vergessen war sie – sie wurde vergessen gemacht. Warum das? Weil das patriarchale und postfaschistische Konzept der Schande in der Nachkriegszeit niemand in Frage gestellt hat: „Sie war schon auch selber schuld“, hieß es. Man warf ihr indirekt vor, sie hätte sich nicht nach der Decke gestreckt, nicht klein beigegeben und niemals mit dem Hitlergruß gegrüßt.
Es gab ein Fortwirken der NS-Ideologie bis herauf in meine Generation. Also doch „kontaminierte Landschaften“, wie diese „schönen“ österreichischen Gegenden von Martin Pollack genannt werden, auch in den heilen Förster- und Bauernmilieus im schönen Salzburger Land? Okay, ich hätte auch sagen können „nichts Besonderes bei uns zu Hause“ und hätte mich schöneren Dingen zuwenden können. Ich wollte es aber ganz genau wissen.
Die angeblichen sexuellen Vergehen haben auch mich eine Zeit lang vor den Kopf gestoßen: Als achtfache Mutter und bereits 50jährig hatte sie einen jungen Franzosen als Liebhaber! (Heute sagen wir sowas ist gang und gäbe.) Nein, noch dazu drei Franzosen sollen es gewesen sein, Kriegsgefangene, ihr zugeteilte Zwangsarbeiter! Oder hat man ihr das nur nachgesagt, weil sie den französischen kriegsgefangenen, die im Schloss Goldegg ihre örtliche Zuständigkeit hatten, am Sonntag erlaubt hat, sich auf ihrem Hof zu treffen? War DAS das Politische an ihrem Verbrechen „Wehrkraftzersetzung“? Was bedeutete das – Wehrkraftzersetzung?
Sie müssen sich vorstellen, dass Maria Etzer allein schon wegen dieses einen Fotos hätte verhaftet werden können.
Sie müssen sich vorstellen, dass Maria Etzer allein schon wegen dieses einen Fotos hätte verhaftet werden können. Sie sitzt da mit den Leuten, für die sie zuständig war, auf der Hausbank vor ihrem Anwesen: mit dem kriegsgefangenen Zwangsarbeiter Georges Fontaine, mit der ukrainischen Zwangsarbeiterin Maria Podusieko, mit ihrer Ziehtochter und Enkelkindern. Es war strengstens verboten, „Fremden“ dieselbe Kost vorzusetzen wie den Familienangehörigen und auch, mit „Fremden“ überhaupt an einem Tisch oder auf einer Hausbank zu sitzen.
Zu diesem Anklagepunkt hat die historische Sozialforscherin Maria Prieler-Woldan ganz neue, zeitgemäße Thesen erarbeitet: „Das Selbstverständliche Tun“ im Zusammenhang mit dem Leben einer armen Salzburger Bergbäuerin – ein genialer Titel, eine gute Zusammenfassung ihrer Lebenseinstellung.
Was ist das Selbstverständliche? Jemand sagte, ja, anständig ist sie halt geblieben. Aber „der Anstand“ hat seit der Waldheim-Affäre etwas abgekriegt, seit ein Herr Bundespräsident verlautet hat: „Wir Österreicher sind ein anständiges Volk“. Seitdem will ich nicht mehr nur einfach anständig sein. Das Selbstverständliche hängt zusammen mit Sich-verständigen-wollen! Maria Etzer hat sich mit ihren „Fremden“ verständigt, sie hat sich mit ihnen um einen Tisch und auf die Hausbank gesetzt.
Hannah Arendt hat den Tisch den Ort der menschlichen Grundfähigkeit par excellence genannt: Diese Grundfähigkeit ist, dass wir uns verständigen können, verständigen wollen. Miteinander reden. Jede Tischrunde ist deshalb eine politische Grundkonstellation, auch schon im familiären Bereich. Das war der Skandal für die Nazis, das war das Politische im Selbstverständnis der Maria Etzer. Und das war „Wehrkraftzersetzung an der Heimatfront“, dass sie versucht hat, sich mit den ihr zugeteilten Fremden zu verständigen. Eine Cousine, die wir interviewt haben, hat gesagt: „Die hat ja schon Französisch geredet mit denen, die Muatta!“ In ihrem Pinzgauer Dialekt hat sie versucht sich mit Georges, und auch mit Maruschka, zu verständigen.
Ist es möglich die Ächtung aufzuheben?
Ist es möglich die Ächtung aufzuheben? Das Selbstverständliche zu tun sei politischer Widerstand gewesen? Ja, die Voraussetzungen nach dem Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz 2009 liegen vor. Nach dem Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 18. 9. 2018, wo Anträge dieser Art aus ganz Österreich einzureichen sind, wurde das Urteil vom Landgericht Salzburg als Sondergericht vom 24. 3. 1943 aufgehoben, wonach meine Großmutter zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Nun ist es aktenkundig und öffentlich wirksam: „Der primäre Grund für Verfolgung und Verurteilung von Maria Etzer lag darin begründet, dass sie auch während der NS-Diktatur ihren christlichen Wertvorstellungen treu blieb und sich auch gegenüber den als Zwangsarbeitern eingesetzten Kriegsgefangenen menschlich verhielt. Ein solcher Dissens mit der NS-Ideologie war den Machthabern ein Dorn im Auge und wurde schon als Form des Widerstands angesehen.“
Warum das gut tut? Es tut der Familie gut. Es gibt schon welche, die noch immer den Mund nicht aufbringen, aber die überwiegende Mehrheit der weitläufigen Verwandtschaft von Australien bis Kanada hat die Rehabilitierung der Großmutter gefeiert!
Es geht aber auch darum, wieder und immer wiederum aufs Neue Erinnerungsarbeit (oder das beharrliche Nachfragen) anzuregen, Beispiele dafür zu liefern, dass das geht und dass es gut tut, wenn geschaut wird, was war. Dann gibt es auch Fortschritte in der öffentlichen Erinnerung wie eben heute hier. Es geht um den Rechtsstaat, dem die Demokratie zu dienen hat. Es geht um den erlaubten – oder schon wieder verbotenen? – Umgang mit Fremden. Heute haben wir nicht mehr nur einzelne Gesetze zu verteidigen, sondern das grundlegende Gesetz der Menschheitsgeschichte: das Gesetz der Gastfreundschaft. Maria Prieler-Woldan bezeichnete es umfassender als „Lebenssorge“, sie eröffnet für die Lebenssorge in ihrem Buch ein Konzept der Widerständigkeit.
Ich suchte nach Begriffen in anderen europäischen Sprachen für diese Selbstverständlichkeit, mit der Menschen sich um andere umschauen und über das Eigene hinaus „Sorge tragen“: Generosität. Die Franzosen sagen anstatt Selbstverständlichkeit vielleicht: l´ évidence, die Spanier el sobre entendido, im Englischen ist es matter of course, für die Italiener l´ovvietà…
Genia Schwarzwald nannte „das Selbstverständliche“ in einem ihrer Artikel vor hundert Jahren: Herzenshöflichkeit
Genia Schwarzwald nannte „das Selbstverständliche“ in einem ihrer Artikel vor hundert Jahren: Herzenshöflichkeit. Die Rehabilitierung meiner Großmutter durch das Landesgericht für Strafsachen Wien, Abt. 24, ausgefertigt durch Mag. Friedrich Forsthuber, beruft sich auf die Ergebnisse der Forschungsarbeit in Maria Prieler-Woldans Buch. Die Rehabilitierung stellt eine einfache Bäuerin damit aber auch in die humanitären Zusammenhänge europäischer und globaler Selbstverständlichkeit. Das erfüllt mich und die meisten ihrer Nachkommen mit andauernder Freude.