1.Bericht von Michaela Söllinger aus Kolumbien
Nach einer Woche Kolumbien sitze ich nun in Bogotá in meinem vorübergehendem Zimmer und trinke Tee, viel Tee. Es ist kalt. Bald werde ich in wärmere Gefilde, meinem Hauptarbeitsgebiet, den Nordwesten Antioquias, ziehen. Zur Zeit gilt es Administratives zu erledigen, Kommunikationssysteme zu aktivieren und mich auf die, auf Grund von COVID-19 meist virtuellen Ersttreffen zu konzentrieren, zuzuhören und zu analysieren, bevor ich zu den Gemeinden reisen werde.
Eines der Hauptthemen während meiner ersten Woche in Kolumbien war wohl der vierte Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen der damals größten Guerillagruppe FARC-EP und der kolumbianischen Regierung. Bilanzen wurden gezogen, Forderungen gestellt. Während vor allem in den letzten zwei Jahren die großen Mängel und Versäumnisse in der Umsetzung der Friedensverträge seitens der Regierung von Menschenrechtsverteidiger*innen herausgestrichen wurden, die sich in steigenden Zahlen von Bedrohungen und Tötungen der Zivilbevölkerung zeigen, weisen zum Jahrestag mehrere Menschenrechtverteidiger*innen darauf hin, dass die zunehmende Unsicherheit von Umweltaktivist*innen, Menschen- und Landrechts-verteidiger*innen, demobilisierten Guerillakämpfer*innen, sowie der Zivilbevölkerung im allgemeinen mit einer Asymmetrie von Erfolgen und Versäumnissen bei der Umsetzung des komplexen Friedensvertrages in Zusammenhang gebracht werden kann.
Dem massiver Anstieg von Gewalt gegen die oben genannten Gruppen, die oft von der Basis aus versuchen an der sozialen Transformation teilzunehmen, die mit dem Friedensvertrag angestrebt wird, wird eine aktivere politische Beteiligung und erfolgreiche Demobilisierung von vielen ehemaligen Guerillakämpfer*innen gegenübergestellt.
Die Menschenrechtsverteidigerin Diana Sanchez streicht heraus, dass die erfolgreiche Demobilisierung des größten Teils der FARC einen Sündenbock weggenommen hat, auf den viele Jahre von den Eliten Kolumbiens „alles Schlechte“ geschoben wurde. Extreme soziale Ungleichheiten und Gewalt können nicht mehr auf den internen Konflikt mit der Guerilla FARC-EP geschoben werden. Nach vier Jahren Friedensvertrag hat sich in diesen Punkten keine signifikante Besserung gezeigt. Unmut macht sich breit und die Bevölkerung versucht u.a. mit Protestveranstaltung die Regierung in die Verantwortung zu nehmen.
Der Menschenrechtsanwalt Álvaro Uribe sieht die politischer Öffnung neben der aktiven Protestbewegung auch an der Transformation der Guerilla FARC-EP in die Partei FARC, sowie an parteipolitischen Ergebnissen. Letztere misst er unter anderem an den acht Millionen Stimmen (Kolumbien zählt knapp 50 Mio. Einwohner*innen), die 2018 die Präsidentschaftskandidatur zweier linksgerichteter Politiker*innen erreicht hat.
Die Protestbewegung ist seit November 2019 erstarkt, nachdem sich verschiedenste zivilgesellschaftliche Gruppen zusammenschlossen, um gegen Regierungsmaßnahmen zu protestieren. Während dieser Proteste wurde Dylan Cruz mutmaßlich von der kolumbianischen Polizei getötet. Er wurde zum Symbol einer Protestbewegung, die vorerst vor allem durch die Corona-Pandemie und die strengen Quarantäneverordnungen der Regierung Duques abflaute. Vor allem der Tod eines Anwalts aus Bogotá durch Polizeigewalt im September 2020 ließ die Proteste in der Hauptstadt wieder aufflackern. Es kam zu Ausschreitung, die Polizei schoss. Es starben 13 Demonstrant*innen und ca. 75 werden durch Schusswaffen verletzt. Viele sprechen von einem Massaker.
Nichtsdestotrotz gehen in Kolumbien verschieden Gruppen weiterhin auf die Straßen, um ihre Rechte, oft ihr Recht auf Leben, einzufordern.
So beim Marsch Tausender Indigener aus ihren Territorien im Süden des Landes in die Hauptstadt, um ein Gespräch mit dem kolumbianischen Präsidenten über die Sicherheitslage in ihren Territorien zu führen. Bewaffnete Gruppen, unter ihnen neoparamilitärische Gruppen und ehemalige FARC-Einheiten, die nicht am Friedensvertrag teilgenommen haben, kämpfen um territoriale Vorherrschaft und terrorisieren ganze Landstriche. Kolumbien zählt seit Beginn dieses Jahres über 75 Massaker. Diese Woche wurden innerhalb von zwei Tagen 15 Menschen bei zwei Massakern in Antioquia getötet. Somit wurden 2020 bereits mehr als 300 Menschen in über 75 Massakern getötet.
Wir brauchen eure Hilfe!
Jetzt >>Begleitzeit spenden<< und Michaelas Arbeit in Kolumbien unterstützen!
Kurz nach dem o.g. Marsch machten sich auch seit vier Jahren demobilisierte FARC- Kämpfer*innen, auch ‚Unterzeichner des Friedens‘ genannt, aus verschiedenen Teilen Kolumbiens auf den Weg in die Hauptstadt mit dem Ziel, auf ihre verheerende persönliche Sicherheitslage aufmerksam zu machen, den Präsidenten zum Dialog aufzufordern und gleichzeitig Zeugnis abzulegen über das Einhalten des Friedensvertrags von ihrer Seite. Mit dabei waren auch mehrere Vertreter*innen aus Antioquia, aus San Jose de León, Mutatá, und Dabeiba/Frontino, beides Gemeinden, die wir begleiten. Nichtsdestotrotz wurde am 24. November, dem 4. Jahrestag des Friedensvertrags, die 243ste Unterzeichnerin des Friedens getötet, eine Frau, die sich in Antioquia demobilisierte.
Hier ist sie wieder, die Asymmetrie in der Umsetzung der einzelnen Punkte des Friedensvertrages. Während ein großer Teil der FARC-EP-Kämpfer *innnen vor vier Jahren demobilisierte, fehlen bis heute effiziente Sicherheitskonzepte für dieselben. Die JEP (Justicia Especial para la Paz), ein juristisches Organ, das im Rahmen der Übergangsjustiz gegründet wurde, rief Anfang dieser Woche die Regierung dringend dazu auf, die ‚Unterzeichner des Friedens‘ besser zu schützen, so wie es im Vertrag versprochen wurde. Die JEP selbst, die vom Staat von Anfang an stark unterfinanziert und rechtlich angegriffen wurde, wird ihrerseits von Regierungskreisen angeprangert, zu wenig effizient zu sein.
Sergio Jaramillo, ein von der Regierung beauftragter, führender Stratege der Friedensverhandlungen unter der Präsidentschaft Juan Manuel Santos, nutzte den vierten Jahrestag, um davor zu warnen, dass die große Kraft und Möglichkeit zur Veränderung, die der Friedensvertrag in den Territorien hervorgebracht hat, durch einen Zusammenbruch der Sicherheit in den ländlichen Regionen zu Fall gebracht werden könnte.
Um diesem Zusammenbruch der Sicherheit entgegenzuwirken, empfiehlt er der Regierung, zivile Sicherheitskonzepte zu stärken und zu akzeptieren, dass die Guerilla FARC-EP mit tausenden Kämpfer*innen nicht mehr Staatsfeind Nr. 1 ist, und so nicht weiterhin zur Stigmatisierung und Polarisierung im Land beizutragen. Gleiches gilt für die andauernde Stigmatisierung von sozialen Anführer*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Kokabauern und Kokabäuerinnen, von denen sich viele der freiwilligen Substitution von Koka durch legale Kulturpflanzen im Rahmen des Friedensvertrag angeschlossen haben und dafür bedroht bzw. getötet werden. Sergio Jaramillo bemängelt weiters den fehlenden Kampf gegen die Korruption in den eigenen Reihen der Regierung Duque, ohne die die illegalen Massentransporte von Drogen durch neuralgische Punkte Kolumbiens nicht möglich wären und die die Spirale der Gewalt weiter antreiben. Außerdem streicht er die Dringlichkeit der im Friedensvertrag verankerten Bekämpfung und Auflösung von neoparamilitärischen und anderen kriminellen Gruppen heraus. Die neoparamilitärischen Gruppen gelten als Nachfolgerinnen der paramilitärischen Gruppen nach dem Demobilisierungsversuch unter Präsident Uribe in den Jahren 2002-2006.
Die Plattform ,Defendamos la Paz’ (Verteidigen wir den Frieden!) bittet in Bezug auf diese Unsicherheiten den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen um Hilfe. In Kolumbien ist seit dem Friedensvertrag eine Mission der Vereinten Nationen für die Überprüfung der Sicherheitsmaßnahmen für oben genannte Bevölkerungsgruppen sowie der Auflösung der neoparamilitärischen Gruppen zuständig. Defendamos la Paz klagt die fehlende Implementierung und staatliche Unterstützung der Nationalen Kommission für Sicherheitsgarantien an. In diese im Friedensvertrag vorgeschriebene Kommission wurde vor vier Jahren die große Hoffnung gelegt, dass sie Personen, die sich für den Frieden einsetzen, schützen und historisch verankerte neoparamilitärische Gruppen aufdecken werde. Bis heute kann die Kommission keine staatliche Strategie für diesen Schutz vorstellen. Es haben kaum Sitzung stattgefunden. Den Vorsitz dieser Kommission hat der Präsident Kolumbiens selbst.
Vor diesem Panorama stellen viele internationale Gruppen, v.a. in virtuellen Foren, die Frage, was sie in Zeiten der Pandemie von ihren Ländern aus tun können, um die kolumbianische Zivilbevölkerung vier Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages zu unterstützen. Ich erinnere mich besonders an eine Antwort eines Menschenrechtsverteidigers: „Uns zuhören und das, was wir erzählen, das, was wir erlebt haben und das, was wir erleben, weitererzählen. So kann die Wahrheit weder durch einen öffentlichen Diskurs, dass in ganz Kolumbien Frieden sei, welcher von politischen und wirtschaftlichen Eliten forciert wird, noch durch Bedrohungen und/oder Ermordungen der Stimmen, die diese Wahrheit erzählten und erzählen, vertuscht werden.“
Wahrheit, das ist eine der Säulen des Friedensvertrags, die einen dauerhaften Frieden bringen soll: Einer der ‚Unterzeichner des Friedens‘, die von Antioquia nach Bogotá pilgerten, sagt öffentlich im Rahmen der Übergangsjustiz über seine Tätigkeiten in der Guerilla FARC-EP aus – auf Grund der Corona Situation virtuell, auf youtube gesendet und verfügbar.
Ich sitze mit meinem Tee in Bogotá und versuche mir die Übertragung anzusehen. Der Richter – an einem anderen Ort als der Aussagende – fordert den Aussagenden auf: „Bitte nennen sie ihre Daten, ihre Telefonnummer und wo sie sich befinden.“ Der Aussagende gibt die Daten an. Der Richter fragt weiter: „Gibt es irgendetwas, das sie uns bezüglich ihrer Sicherheitssituation seit der letzten Befragung sagen möchten?“ Die Verbindung ist schlecht, der Aussagende ist nicht sicher, ob er die Frage verstanden hat, schließlich wird die Befragung auf Grund der schlechten Verbindung vertagt.
Unsere Arbeit lebt durch euch: Bitte unterstützt die Friedenspräsenz in Kolumbien mit eurer Spende – jeder Betrag hilft uns, nachhaltig zu arbeiten!
Kontodaten: Int. Versöhnungsbund, IBAN: AT94 6000 0000 9202 2553, BIC: BAWAATWW
Verwendungszweck: Kolumbien