In Kolumbien legen Massaker die nächste Phase des Konfliktes offen

Dieser Artikel von Thomas Power ist ursprünglich auf Englisch bei nacla erschienen.

Unter Präsident Duque mehren sich Massaker, besonders in den Zonen, die früher die FARC-EP Guerilla kontrollierte.

Demonstration am Fluss Naya
Demonstration am Fluss Naya während einer Veranstaltung für Frauenrechte (Foto: Conpazcol)

In den letzten Wochen hat es in Kolumbien den Anschein als gäbe es täglich neue Massaker. Am 11. August wurden fünf Jugendliche in Cali abgeschlachtet und acht weitere wurden fünf Tage später in Nariño getötet. Die darauffolgende Woche gab es Massaker in den Departements Arauca, Cauca, Antioquia und ein weiteres in Nariño. Am 7. September wurden drei Massaker innerhalb von 24 Stunden verübt; zwei in Antioquia und eines in Bolivar, nachdem zwei Tage zuvor in Cauca drei Menschen bei einem weiteren Massaker umkamen. Am 9. September begann in den sozialen Medien ein Video zu zirkulieren, das zeigte, wie Polizisten in Bogotá Javier Ordoñez töteten. Zwölf weitere Personen starben bei den darauffolgenden Protesten.

Massaker nahmen während der ersten 2 Jahren der Präsidentschaft Duques um 30% zu. Von Anfang dieses Jahres bis zum 25. August zählte die kolumbianische Denkfabrik Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz (Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden, Indepaz) 55 Massaker. Die Massaker passierten in Regionen, in denen in den letzten Jahren soziale Anführer*innen getötet worden waren und die früher von der jetzt demobilisierten FARC-EP Guerilla kontrolliert wurden. Während die Massaker alten Mustern der Gewalt entsprechen, deuten sie auch auf neue Dynamiken hin, bei denen die Akteure und Interessen hinter den Attacken nicht immer klar sind.

Die Regionen mit den meisten Massakern in diesem Jahr sind zur Zeit Antioquia mit zwölf, sowie Nariño und Cauca an der Pazifikküste mit jeweils sieben. Catatumbo an der venezolanischen Grenze und Putumayo an der ekuadorianischen Grenze folgen mit jeweils vier.

„Es gibt ein Interesse diese Regionen zu kontrollieren: Kontrolle über strategische Verbindungen, Kontrolle über Orte, die politische Relevanz haben und über Orte, in denen bewaffnete Gruppen im Konflikt sind“, sagt Abilio Peña, ein Menschenrechtsverteidiger aus Bogotá. Abilio Peña arbeitet mit der Nichtregierungsorganisation ANSUR, die Workshops über Selbstschutzmaßnahmen für Basisgruppen und –gemeinden gibt.

„Es ist offensichtlich systematisch. Es ist kein Zufall, dass dieses Jahr schon mehr als vierzig Massaker verübt wurden. Es gibt ein Muster“, sagt Peña.

Leonardo Gonzalez, der Autor des Indepaz-Berichtes betont, dass der Konflikt zwischen bewaffneten Gruppen um die Gebietskontrolle mit dem Scheitern der Umsetzung der Friedensverträge mit der FARC-EP von 2016 zu tun hat.

„Es gibt zwei Phänomene. Eines sind die Ermordungen von Menschenrechtsverteidiger*innen und das andere sind die Massaker“, sagt González. „Diese Phänomene begannen 2016 und steigen seit kurzem stark an. Wir würden meinen, dass das eine Reaktion der bewaffneten Gruppen ist, um die von der FARC-EP frei gewordenen Zonen unter ihre Gewalt zu bringen.

Post-Friedensverhandlungen, Kreisläufe früherer Gewalt gehen weiter

Im August überschritt die Anzahl ermordeter sozialer Anführer*innen 1000. Man beobachtet eine fast identische geografische Zuordnung zwischen den Departements mit den meisten getöteten sozialen Anführern und den meisten Massakern. 240 soziale Anführer*innen wurden in Cauca getötet, in Antioquia waren es 133, gefolgt von 91 in Nariño, 75 in Valle de Cauca und 61 in Putumayo.

Die augenscheinliche Intensivierung des Konflikts sollte nicht isoliert, sondern in Zusammenhang mit früheren Kreisläufen der Gewalt gesehen werden. „Es gibt rückblickend verschiedene Muster. Während der Präsidentschaft von Turbay waren Folterungen häufiger. Unter Samper und Uribe gab es mehr Vertreibungen“, sagt Peña. „Heute erleben wir selektive Tötungen kombiniert mit Massakern um soziale Kontrolle durchzusetzen, um in bestimmten Regionen zu herrschen. Selbstverständlich gibt es in diesen Regionen wirtschaftliche und politische Interessen.“

Wiljan Aljure kann auch über Verbindungen zwischen heutiger und vergangener Gewalt erzählen. Er lebt im Bezirk Mapiripán in den östlichen Ebenen, einem umkämpften Gebiet. Er ist Präsident des  Netzwerks indigener, afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden namens Comunidades Construyendo Paz en Colombia (Friendsaufbauende Gemeinden Kolumbiens, Conpazcol). Aljure verlor seine Eltern und Großeltern im kolumbianischen Konflikt und sein Land ist zurzeit von der Palmölfirma Polygrow besetzt.

Das ist nichts Neues, zumindest wenn Wiljan aus den Erfahrungen seiner Familie spricht: „Mein Großvater hatte Friedensverträge mit der Regierung unterzeichnent, die am Ende nicht eingehalten wurden“, erzählt Wiljan Aljure.

Die kolumbianische Regierung leugnet, dass es den Konflikt gibt. Direkt den Neusprech-Prinzipien entnommen, beschreibt Präsident Duque die aktuelle Welle von Massakern als „kollektive Morde“. Der kolumbianische Verteidigungsminister beschuldigt den Drogenhandel, damit erzürnt er Opfer und verwendet dazu ein häufiges, klischeehaftes Erzählelement, um die Verantwortung des Staates wegen seiner Untätigkeit in Bezug auf die Vermeidung dieser Tragödien zu umgehen.

Der kolumbianische Hochkommissar für Frieden, Miguel Ceballos, ging noch weiter und verleumdete die Massaker als solches und ordnete die Toten Gebietskämpfen zwischen Drogenhändlern zu; mit der Ausnahme der Ermordung der acht Jugendlichen in Nariño.

Massaker als Form der sozialen Kontrolle

Massaker sind keine Kollateralschäden von Gebietskämpfen bewaffneter Gruppen. Sie sind eine bewusste Strategie um soziale Kontrolle zu sichern.

Massaker sollen eine Botschaft an die Lebenden senden. „Wenn sie territoriale Kontrolle haben möchten, dann brauche sie soziale Kontrolle“, sagt González von Indepaz. „Illegale bewaffnete Gruppen massakrierten zum Beispiel Menschen, weil diese die Quarantäne nicht einhielten. Es ist also eine Möglichkeit, den Menschen zu sagen ‚wir haben hier das Sagen‘. Massaker sind Botschaften an die Bevölkerung.“

Aljure stimmt dem zu. „Es sind unterschiedliche Umstände, aber am Ende ist es das Gleiche. Es geht darum, dass man auf jeden Fall tötet, um eine Botschaft zu senden. In Nariño waren es junge Leute, die Spaß hatten, schau was passierte… Sie töten nicht mehr alte Männer, schau wie viele Kinder sie in den letzten Wochen getötet haben“, meint er.

Ein weiter Unterschied zwischen jetzt und früher ist die heimliche Art, in der die Massaker ausgeübt werden. 2017 wurden zum Beispiel 62% der Morde an sozialen Anführer*innen von unbekannten Täter*innen begangen.

„Es ist nicht so, dass eine bewaffnete Gruppe in ein Gebiet kommt, zuerst Menschen bedroht, und dann Massaker ausübt“, sagt González, „Es ist eine neue Form, weil wir früher die Identität der bewaffneten Gruppe kannten und man wusste, was die Gruppe erreichen wollte. Heute wissen wir nicht, wer die Schachfiguren des Krieges zieht, wer gewinnt und wer verliert.“

Gewalt verbunden mit wirtschaftlichen Interessen und Paramilitarismus

Enrique Chimonja ist ein Menschenrechtverteidiger von Fellowship of Reconciliation (Versöhnungsbund, FOR) und Conpazcol. Er ist selbst Opfer des bewaffneten Konflikts und lebt im Departement Huila. Er erklärt, dass die heutigen illegalen Gruppen neben dem heimlichen Stil auch die politischen Ziele den wirtschaftlichen Zielen untergeordnet haben.

Chimonja erläutert, dass wirtschaftliche Interessen über den Drogenhandel hinausgehen. „Das Modell hat keine andere Möglichkeit als auf das zurückzugreifen, was es immer gemacht hat“, sagt Chimonja, „das heißt, auf Gewalt und Kriminalität zurückzugreifen. Es muss die Schwäche des Staates ausnutzen, um zu vertreiben und weiter das wirtschaftliche Projekt der unendlichen Akkumulation, die das neoliberale Modell kennzeichnet, zu festigen.“

Bewaffnete Gruppen zielen nicht nur auf die Kontrolle der Drogenrouten, sondern auch auf die Ressourcen der Region ab. In vielen Bezirken, wo Massaker verübt wurden gibt es rohstoffwirtschaftliche Vorhaben. Es gibt zum Beispiel in El Tambo, Cauca, wo am 21. August sechs Menschen getötet wurden, Anträge für Kohleabbau. In Samaniego, Nariño, wo dieses Jahr zwei Massaker, inklusive des Massakers an acht Jugendlichen am 15. August, durchgeführt wurden, fand 2017 ein Treffen zwischen dem Bürgermeister und dem nationalen Institut für Bergbau statt. Es wurden die Möglichkeiten des Abbaus von Gold und anderen Materialen erörtert. In Arauca, wo am 21. August fünf Menschen getötet wurden, gibt es ein besonderes Interesse an Erdölvorkommen. Die kanadische Firma Colombian Crest Gold Corp besitzt Goldschürfrechte im Bezirk Venezia, Antioquia, wo am 23. August drei Personen umgebracht wurden. Dann ist da noch der Bezirk Andes in Antioquia, wo am 28. August drei Menschen das Leben genommen wurde. Dort  gibt es ein Dutzend Abbaukonzessionen für Gold, Kohle und andere Materialien. Zusätzlich sind  Dutzende Anträge für weitere Konzessionen gestellt worden. In der Region Catatumbo, wo dieses Jahr bis jetzt vier Massaker verübt wurden, gibt es sowohl agroindustrielle Interessen als auch Rohstoffabbauinteressen.

Neben dem Erlangen territorialer und sozialer Kontrolle bezieht sich Aljure auf einen dritten Faktor, den er nur ungern erwähnt. Zu den aktuellen politischen Geschehnissen in Kolumbien gehört auch die Anordnung des Obersten Gerichthofes, den ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe unter Hausarrest zu stellen.

Peña sagt, dass, auch wenn es keine direkten Zusammenhänge zwischen der Anordnung des Arrests von Uribe und den Massakern gäbe, Wechselwirkungen zu erkennen seien.  Er meint, dass seit Pablo Escobar eine Art Mafia-Drogenhändler-Landbesitzerklasse immer mächtiger wurde und ihren Höhepunkt mit dem Beginn der Präsidentschaft von Uribe 2002 erlebte. „Und jetzt sind wir in einem Moment, in dem diese Macht abnimmt, und die Verhaftung Uribes ist ein Symbol dafür. Aber das heißt nicht, dass diese Macht bald zu Ende geht“, sagt Peña.

„Der Geist, die Mentalität des Paramilitarismus wurde von Ex-Präsident Uribe konzipiert. Convivir, Massaker, die Parapolitik sind alle mit dem Ex-Präsidenten Uribe verbunden. Und das ist noch immer intakt, das hat sich noch immer nicht verändert“, sagt Peña. Convivir war ein legales Instrument, das 1990 gegründet wurde, um Privatpersonen den Selbstschutz gegen Guerillagruppen zu erlauben. Es wurde aber ein Verbindungsglied für die Koordination zwischen Paramilitär, Militär und Privatunternehmen. Als Gouverneur von Antioquia setze sich Uribe dafür ein, Convivir im ganzen Departement zu verbreiten. Rund um den Skandal der ‚Parapolitik‘ wurde gegen hunderte Abgeordnete und Politiker*innen wegen ihrer Beziehungen zu paramilitärischen Gruppen ermittelt. Kürzlich veröffentlichte Korrespondenzen zeigen, dass während der Präsidentschaft von Bush das US- Verteidigungsministerium Uribe schwer verdächtigte, Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen zu haben.

Peña betonte auch die „bedingungslose Unterstützung“ der U.S. Administration für Uribe. Vizepräsident Mike Pence twitterte seine Unterstützung für den ehemaligen Präsidenten.

Die Angst hat in den verschiedenen Gebieten Kolumbiens zugenommen. Aljure macht sich als Präsident von Conpazcol Sorgen um die Gemeinden am Fluss Naya, die die Nachricht eines möglichen Massakers am 23. August erhielten. Diese afrokolumbianischen Gemeinden an der Pazifikküste leben in einer umkämpften Region, wo 2018 drei Personen verschwanden.

Aljure meint, dass den Massakern mehr internationale Aufmerksamkeit zukommen muss. „Nicht nur, um darüber zu reden, was passiert ist, sondern um zu verhindern, was passieren könnte.“

Thomas Power studiert Politikwissenschaften auf der Nationalen Universität von Kolumbien (Universidad Nacional de Colombia) und war von 2016-2018 ein Schutzbegleiter bei FOR Colombia, wo er nach wie vor mitarbeitet.