Seit 2016, als die Regierung Kolumbiens unter Präsident Santos und die größte Guerilla-Gruppe FARC einen Friedensvertrag schlossen, kämpfen Menschen- und Landrechtsverteidiger*innen für die Umsetzung der umfassenden Verpflichtungen, die von der Regierung übernommen wurden. Zu diesen Verpflichtungen zählen unter anderen die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Landbevölkerung, die Verhinderung von Vertreibungen und die politische Teilhabe marginalisierter Bevölkerungsteile. Außerdem versprach die Regierung, die neoparamilitärischen Strukturen abzubauen, die in vielen Teilen des Staates ganze Landstriche unter ihrer Kontrolle haben und deren Krakenarme laut mehreren Menschenrechtsorganisationen in politische und wirtschaftliche Kreise reichen. (1) Dazu kommen andere illegale bewaffnete Gruppen wie die ELN (Nationale Befreiungsarmee), desertierte FARC-Kämpfer*innen, die sich weigerten, an der im Friedensvertrag vereinbarten Demobilisierung teilzunehmen, bewaffnete Banden sowie Drogenkartelle. Trotz vier Jahre Friedensabkommen spielen die staatlichen Sicherheitskräfte immer noch eine ambivalente Rolle, da von ihnen weiterhin Menschenrechtsverbrechen verübt werden. Zudem werden immer wieder Verbindungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften, neoparamilitärischen Gruppen und kriminellen Gruppen aufgedeckt.
Ein Brandbeschleuniger für Gewalt
Zu dieser Gemengelage von bewaffneten Akteur*innen kam im März dieses Jahres das Covid-19-Virus, das nicht nur das Leben und die wirtschaftliche Existenz vieler Menschen bedroht (oder im schlimmsten Fall vernichtet), sondern auch als Brandbeschleuniger für Gewalt wirkt.
Fast zeitgleich mit dem Lockdown in Österreich begann quasi eine nationale Heimquarantäne. Man durfte das Haus, sofern man eines besitzt, nur an bestimmten Tagen für dringende Besorgungen verlassen. Von diesen Mobilitätsbeschränkungen waren nur wenige Berufsgruppen ausgenommen. Medizinisches Personal, Militär und Polizei gehörten zu diesen Ausnahmen.
Gemeinderät*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltschützer*innen und die meisten internationalen Menschenrechtsbeobachter*innen gehörten nicht dazu. Da sehr viele von ihnen mit entlegenen ländlichen Gemeinden arbeiten, sind sie, um wenigstens ein Minimum an Kommunikation aufrechterhalten zu können, auf Online-Chats angewiesen. Oft ist das aber wegen schlechter oder fehlender Internetverbindung im ländlichen Raum gar nicht möglich.
Die vor allem nach den Friedensverhandlungen dringend geforderte Präsenz staatlicher und nichtstaatlicher ziviler, nicht-bewaffneter Organisationen zum Aufbau eines gerechten, dauerhaften Friedens in abgelegenen Gebieten wurde massiv eingeschränkt.
Das wiederum stärkt bewaffnete illegale Gruppen, die sich staatliche Autorität anmaßen und verkünden, neben Polizei und Militär ebenfalls die Einhaltung der Corona-Maßnahmen zu kontrollieren. Damit verfestigen diese Gruppen die territoriale Kontrolle in ländlichen Gebieten.
Kolumbien ist eines der von Covid-19 am schwersten betroffenen Länder Lateinamerikas. Der eingeschränkte Zugang zum Gesundheitssystem sorgt zusätzlich dafür, dass die meisten Menschen die Quarantäne bestmöglich einhalten. Das ist auch gut so, denn während der zwei Amtsjahre von Präsident Iván Duque haben sich die sozialen Gegensätze verschärft. Und auch die Pandemie zeigt die Prioritäten der Regierung deutlich auf: So sind für das Finanzsystem 60 Milliarden US-Dollar an Kreditgarantien vorgesehen, für das Gesundheitsministerium und das Nationale Gesundheitsinstitut lediglich 960 Millionen US-Dollar.
Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass zivilgesellschaftliche Projekte auf virtuelle Plattformen gedrängt wurden, während bewaffnete Gruppen – auch illegale – Bewegungsfreiheit haben.
Das hat Folgen: Die Epidemie der Gewalt breitet sich weiter aus. 2020 steigt die Zahl der Massaker hauptsächlich an Jugendlichen und jungen Männern stark an. Die kolumbianische Beobachtungsstelle für Menschenrechte INDEPAZ zählt 55 Massaker zwischen dem 1. Jänner und dem 9. September 2020, bei denen über 200 Menschen getötet wurden. (2) Damit entspricht die Zahl der bei Massakern Getöteten der Zahl des Jahres 2005 (3), und es ist zu befürchten, dass bis Ende des Jahres noch mehr dieser schrecklichen Verbrechen verübt werden. Am meisten betroffen ist das Departement Antioquia, wo auch die Friedensgemeinde San José de Apartadó beheimatet ist, die 2005 acht ihrer Mitglieder durch ein Massaker verlor. Präsident Duque übt sich derweil im Orwellschen Neusprech und spricht von „kollektiven Morden“, obwohl es klare Kriterien gibt, was unter „Massaker“ zu verstehen ist. (4) Zudem veröffentlichte er auf Twitter eine Grafik, die allen Regeln einer integren Darstellung widerspricht, indem er Zahlen von 8 Jahren den Zahlen der letzten 2 Jahren gegenüberstellt.
Immer mehr Menschen sind in ihren Dörfern eingeschlossen
Nicht nur die Corona-Maßnahmen, sondern auch Kämpfe, Drogentransporte, Massaker und sonstige Aktivitäten illegaler bewaffneter Gruppen schränken die Bewegungsfreiheit der Zivilbevölkerung extrem ein. Dass die Bewohner*innen abgelegener Dörfer praktisch eingeschlossen werden und es nicht wagen, auf ihre Felder zu gehen, war schon immer ein Aspekt des bewaffneten Konflikts. Wenn diese Abgeschnittenheit zu lange andauert, flüchten ganze Dörfer, weil sie ihren sowieso schon kargen Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können. Dieses Jahr stieg die Zahl der Eingeschlossenen durch Aktionen bewaffneter Gruppen um 228 Prozent. Im Departement Antioquia sind beispielsweise 4000 Indigene betroffen.
Langsam werden in Kolumbien die Quarantänemaßnahmen gelockert, man spricht auch in Kolumbien von einer neuen Normalität. Wie wird sie aussehen? Die Unwilligkeit der Regierung Duque, das Friedensabkommen umzusetzen, lässt nichts Gutes vermuten. Aber die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen, engagierte Lokalpolitiker*innen und Staatsanwält*innen werden weiter gewaltfrei kämpfen. Dass die Gerechtigkeit selbst vor den Mächtigsten nicht haltmacht, gibt in einem Land, das immer noch unter einer extrem hohen Straflosigkeit leidet, Anlass zur Hoffnung: So wurde der ehemalige Präsident Álvaro Uribe Vélez am 12. August dieses Jahres unter Hausarrest gestellt. Gegen ihn laufen Ermittlungen wegen Bestechung von Zeug*innen und Prozessbetrug. Eine Sensation in Kolumbien.
Michaela Söllinger, Irmgard Ehrenberger
(1) Zwischen 2002 und 2006 gab es unter Präsident Uribe einen sogenannten Demobilisierungsprozess der Paramilitärs, die im Dachverband „Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens” (AUC) zusammengefasst waren. Die Demobilisierung verlief aber derart halbherzig, dass viele Menschenrechtsverteidiger*innen von einem Projekt der Straflosigkeit sprachen. Tatsächlich haben sich die Strukturen der Paramilitärs verändert, die Befehlsketten sind unklar und dezentral. Das Ziel der AUC, die Macht im Staat durch Verbindungen in die Politik auf lokaler und nationaler Ebene zu übernehmen, wurde allerdings unterbrochen, als ab 2005 die Verbindungen der AUC zu Politiker*innen aufgedeckt wurden. Die Enthüllungen mündeten in eine Staatskrise, auch Parapolitica-Skandal genannt. Mehr als ein Viertel der Kongressabgeordneten wurden strafrechtlich verfolgt. Der Senator Jorge Enrique Robledo schlug den Begriff „Parauribismo” für das Phänomen vor, weil hauptsächlich Verbündete des damaligen Präsidenten Uribe in den Skandal verwickelt waren. Uribe selbst gilt als Förderer des Paramilitarismus. Ob die jetzigen neoparamilitärischen Gruppen weniger gefährlich sind, sei dahingestellt. Klar ist, dass es in Kolumbien keinen Frieden geben kann, solange diese Gruppen nicht aufgelöst sind. https://www.contagioradio.com/las-razones-que-explican-el-regreso-de-las-masacres-a-colombia/
(2) https://www.infobae.com/america/colombia/2020/09/08/alerta-en-colombia-cuatro-masacres-en-menos-de-24-horas-elevan-a-mas-de-200-las-victimas-de-estas-matanzas-en-2020/
(3) https://www.semana.com/nacion/articulo/llueven-criticas-a-duque-por-cifras-que-mostro-sobre-asesinatos-colectivos/696367
(4) Die UNO spricht von einem Massaker, wenn mindestens drei wehrlose Menschen von einer Gruppe an einem Ort getötet werden.