Die Friedensgemeinde leistet bereits ein Vierteljahrhundert im Nordwesten Kolumbiens, an der Grenze zu Panama, gewaltfreien Widerstand.
Der österreichische Zweig des internationalen Versöhnungsbunds unterstützt seit 2006 internationale Begleitung in der Friedensgemeinde. Nach einer mehrjährigen Pause waren Mitglieder der Friedensgemeinde von San José de Apartadó, die heute zwischen 300 und 400 Mitgliede zählt, nach der Aufhebung der Coronapandemiemaßnahmen im September und Oktober 2022 wieder auf Europatour. Neben ihren Besuchen in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und der Schweiz empfingen wir die Friedensgemeindemitglieder Roviro Lopez Rivera und Sayda Arteaga Guerra von 1. bis 6. Oktober in Oberösterreich und Wien.
Nachdem die Friedensgemeindevertreter*innen bereits fast 2 Wochen durch italienische und deutsche Städte getourt waren und von Termin zu Termin hetzten stand in den ersten Tagen Durchatmen in Oberösterreich an. Statt durch tropischen Regenwald, Viehweiden, Kakao, Reis, Bohnen und Bananenpflanzen wanderten wir vorbei an Streuobstwiesen, Mischwäldern und Getreidefeldern. Die Maispflanzen waren das verbindende Glied, auch wenn hierzulande, in Intensivbewirtschaftung, die Pflanzendichte größer ist und Erntemaschinen anstatt Macheten zum Einsatz kommen. Bei Besuchen des Biobauernhofes Harrer und der lokalen Schokoladenfabrik Mayer fand ein spannender lokal-lokal Austausch zwischen Bauern und Bäuerinnen, Kakaoproduzent*innen und Verarbeiter*innen statt.
Dann ging es zurück in städtische Gebiete. In Linz trafen sich Roviro und Sayda mit Barmherzigen Schwestern und den Seelsorgern Franz Schmalwieser und Andreas Paul. „Wir erleben hier einen im praktischen Handeln gelebten Glauben“, war die Erkenntnis der Schwestern, die sich mit sehr interessierten Fragen am Gespräch beteiligten.

Aus den Zeugnissen, die die Mitglieder der Friedensgemeinde bei ihrem nachfolgenden Aufenthalt in Wien abgaben, wurde klar, dass der Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung von 2016 keinen Frieden im Nordwesten Kolumbiens gebracht hat und strukturelle Probleme nicht angegangen worden sind. Mit Hoffnung werden die Bemühungen der neuen Mitte-links-Regierung unter Gustavo Petro erwartet. Zu spüren sind die Veränderungen, die langsam auf nationaler Ebene begonnen wurden, in der Region der Friedensgemeinde noch nicht.
Neben einem Gespräch im Außenministerium trafen sich Roviro und Sayda auch noch mit Berivan Aslan, Gemeinderätin in Wien und Sprecherin für Menschenrechte und Integration, sowie mit Huem Otero García, ebenfalls Gemeinderätin Wiens und Umweltsprecherin (beide Grüner Klub). Dann ging es weiter ins Parlament für ein Gespräch mit Petra Bayr (Abgeordnete der SPÖ). Neben Erläuterungen über die momentane Situation der Friedensgemeinde kamen auch die globale Marktwirtschaft, ihre Einflüsse auf lokale Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien und die daraus resultierende globale Verantwortung zur Sprache.
Am letzten Abend Stand zum Abschluss noch ein Filmabend mit anschließendem Gespräch am Programm, den der Versöhnungsbund gemeinsam mit dem Dachverband lateinamerikanischer Vereine in Österreich und dem Internationalen Referat des ÖGB organisierte. Der Film Chocolate de Paz (2016) erzählt – aus der Sicht der eigenständigen Kakaowirtschaft der Friedensgemeinde – ihre Geschichte. Anschließend an den Film gaben Sayda und Roviro Einblicke in die Herausforderungen der letzten Jahre und in ihre Erwartungen an die neue Regierung.
Nachdem sich die Friedensgemeinde 1997 inmitten der Gewalt von Militär, Paramilitärs und Guerillagruppen, von der vor allem die Zivilbevölkerung der Region betroffen war, als neutral erklärt hatte begann ein schwerer und langer Weg, durch Gewaltfreiheit eine Alternative zum Krieg aufzubauen. Viele Mitglieder wurden auf diesem Weg getötet. Während sich wegen der Dynamiken des Konfliktes Lebensmittelpunkte, wie auch die Gemeinwirtschaft, immer wieder veränderten, wurden die Prinzipien der Gewaltfreiheit und das Leitprinzip „ein würdiges Leben für alle“ nie aufgegeben.
Wie die Friedensgemeindemitglieder bei ihrem Besuch erzählten, fand nach dem Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-EP Guerilla von 2016 in ihrer Region sehr schnell eine Machtübernahme der neoparamilitärischen Gruppe AGC ohne merklichen Widerstand der regionalen Armeeeinheiten statt. Marschierte die neoparamilitärische Gruppe kurz nachdem sich die ehemaligen Guerillakämpfer*innen in Wiedereingliederungslager zurückzogen und ihre Waffen abgaben zuerst in großen, militärisch ausgestatteten Truppen ein, so verwickelten sie nach und nach immer mehr die Zivilbevölkerung in ihre Aktivitäten. Regeln wurden aufgestellt und immer mehr junge Männer und Frauen aus der Region werden bis heute rekrutiert. In den letzten sechs Jahren wurden mindestens 10 Personen aus der Region getötet, vor allem, weil sie die Regeln der AGC nicht beachtet hatten oder der paramilitärischen Gruppe nicht beitreten wollten. Die Friedensgemeinde ist vielleicht die einzige Gruppe von Menschenrechtsverteidiger*innen, die es wagt, darüber zu sprechen und versucht, sich mit gewaltfreien Methoden zu schützen. Unsere zwei internationalen Besucher*innen streichen immer wieder hervor, wie wichtig die internationale Solidarität und die internationale Präsenz vor Ort in der Friedensgemeinde für den Schutz ihrer Mitglieder, inklusive ihrer jungen Männer und Frauen, ist.
Für die möglichst eigenständig lebende Gemeinschaft, von der Roviro und Sayda erzählen, sind dies nicht die einzigen Bedrohungen. Nutzungsrechte und Eigentumsrechte von den Ländereien, die der Friedensgemeinde seit ihrer Gründung zum Überleben und ihrem alternativen kollektiven Kakaowirtschaftssystem dienen, haben sowohl einen wichtigen realen als auch symbolischen Wert. Im Rahmen der derzeitigen Landrückgabeprozesse, die eigentlich den Opfern des bewaffneten Konfliktes dienen sollten, besteht die Gefahr, dass diese Ländereien, u.a. aufgrund politischer Einflussnahme regionaler Eliten, der Friedensgemeinde weggenommen werden. Damit würde die Gemeinde ihre Lebensgrundlage verlieren. Die Friedensgemeinde hofft darauf, dass die internationale Gesellschaft diesen Prozess als Garant begleitet.
Sayda und Roviro betonten auch immer wieder, dass sie gerade jetzt Hoffnung haben, dass unter der neuen Regierung ihre Anliegen rund um eine nachhaltige, umweltschonende Landwirtschaft und ihre Berichte von den tatsächlichen Geschehnissen, ernstgenommen werden. So könnte, zusammen mit dem Druck und der Hilfe vieler Verbündeter auf der ganzen Welt, ein friedlicheres Leben für die Friedensgemeinde und die gesamte Region erzielen werden. Bis jetzt ist allerdings vor Ort noch nichts vom Regierungswechsel zu spüren. Die Friedensgemeinde schätzt für eine tatsächliche Veränderung die Unterstützung und das Monitoring der neuen Regierung durch die internationale Gemeinschaft als grundlegend ein.
Zu guter Letzt bedankten sich Sayda und Roviro im Namen der gesamten Friedensgemeinde von San José de Apartadó für die langjährige internationale Begleitung in ihrer Gemeinde durch den Versöhnungsbund. Sie strichen die Wichtigkeit der Begleitung gerade in dieser Zeit hervor, da die neue Regierung die umfassende Umsetzung des Friedensvertrags von 2016, einen umfassenden Frieden und eine grundlegenden Landreform versprochen hat.
Vielen Dank für den Besuch!
Michaela Söllinger