Buenaventura – Eine Stadt und ihre Menschen, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen

3. Bericht von Michaela Söllinger aus Kolumbien

Hafen von Buenaventura
Warten auf die Bootsfahrt von Buenaventura Stadt zum Fluss Naya

Buenaventura, Kolumbien, Januar 2021. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit Maria Eugenia Mosquera in Buenaventura bin. Zusammen mit Enrique, ist Maru seit mehr als 10 Jahren im kolumbianischen Pazifik, vor allem im Verwaltungsbezirk der Hafenstadt Buenaventura als Menschenrechtsverteidigerin tätig.

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FOR begleitete Maria Eugenia, oder „Maru“ wie sie in der Menschenrechtsszene genannt wird das erste Mal 2014 in Buenaventura. Während die Friedensverhandlungen zwischen der damaligen Guerrillagruppe FARC-EP und der Regierung Kolumbiens in Havanna Fortschritte machten, erlebte Buenaventura, die Hafenstadt mit einem der größten Exporthäfen Kolumbiens eine neue Welle der Gewalt. Der Staat antwortete mit einer Welle der Militarisierung. Es war nicht die erste Welle der Militisierung. Gleichzeitig gilt die Hafenstadt mit mehr als 400000 Einwohner*innen seit vielen Jahren als eine der gefährlichsten Städte der Welt.

Humanitarian-Space-Puente-Nayero FOR 2015
Der Humanitäre Raum Puente Nayero

Gleichzeitig suchten 2014 Graswurzelinitiativen neue Wege, um aus der Gewaltspirale auszubrechen. Maru war, zusammen mit Enrique Chimonja, eine federführende Kraft als sich 2014 die Bewohner*innen von „Puente Nayero“, einem kleinen Armenviertel  der Hafenstadt, gegen die Herrschaft und überbordende Gewalt von bewaffneten Gruppen organisierten. Mehr als 1000 Bewohner*innen des Viertels, die ihre Pfahlbauten und eine Straße selbst errichtet und dem Meer abgerungen hatten, riefen den „Humanitären Raum Puente Nayero“ aus. Gemeinsam wurden Mitglieder bewaffneter Gruppen – Nachfolgegruppen der Paramilitärs von Buenaventura – aus der Zone „rausgeworfen“. Von den kolumbianischen Sicherheitskräften wurde der Schutz der Zugangswege gefordert. Zusammen mit anderen internationalen Begleitorganisationen begleitete FOR immer wieder über mehrere Jahre hinweg Maru und Enrique in diesem humanitären Raum.

EspacioHumanitario
Maru und Enrique 2021 vor dem Humanitären Raum Puente Nayero

2021 kehren wir mit Maru und Enrique zurück nach Buenaventura, das seit Ende 2020 von eine neuen Welle sichtbarer, direkter, physischer Gewalt überrollt wird. Die Stimmung ist angespannt. Von Anfang 2021 bis Anfang Februar spricht man von mehr als 4000 Vertriebenen, 50 Ermordeten und bis zu 20 Verschwundenen. Dazu kommen dutzende Menschenrechtsverteidiger*innen, die Bedrohungen erhalten haben. Eine davon ist Maru. Anfang Jänner dieses Jahres erhielt sie mehrere Drohnachrichten auf ihrem Mobiltelefon .

FOR Peace Presence mit Maru und Enrique, FOR Austria und Witness for Peace Solidarity Collective aus den USA sind bei dieser Reise vertreten, da die Bedrohungen wohl mit Marus aktuellem Engagement in Buenaventura zu tun haben und die Schutzbegleitung die Fortführung der Arbeit ermöglichen soll. Maru ist zusammen mit Enrique Chimonja seit 2019 bei FOR Peace Presence und sie haben sich im letzten Jahr vor allem den Graswurzelprozessen von Buenaventura gewidmet. Sie unterstützen dort verschiedene Friedensplattformen, die sich gegen die Rekrutierung von Jugendlichen durch bewaffnete Gruppen einsetzen. Weiters begleiten sie den Landrückerstattungsprozess der vertriebenen  Gemeinde von La Esperanza, von dem wir vor Kurzem in diesem Blog berichtet haben (https://blog.versoehnungsbund.at/die-hoffnung-auf-einen-schritt-in-richtung-rueckkehr/), die afrokolumbianische Gemeinschaft des Flusses Naya und eben die Gemeinschaft des Humanitären Raums Puente Nayero.

Maru am Boot
Wir verlassen mit Maru die Stadt Buenaventura Richtung Fluss Naya

Am Beginn der Reise fahren wir zu den Gemeinden am Fluss Naya des Distriktes Buenaventura. Im Rahmen des Friedensvertrages, der 2016 unterschrieben wurde, wurde eine Wahrheitskommission ins Leben gerufen, die helfen soll, die Geschichte des kolumbianischen Konfliktes der letzten 50 Jahre aufzuarbeiten. Die Bevölkerung des Flusses Naya litt viele Jahre unter dem Konflikt, und bis heute sind viele ihrer Mitglieder verschwunden. Bei unserer Reise entlang des Flusses Naya sollen Informationen über die Geschehnisse in den afrokolumbianischen Gemeinden des Flusses Naya während des Konflikts für einen Bericht für die Wahrheitskommission gesammelt werden. Das ist eine heikle Aufgabe, denn auch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind bereits mindesten 5 Personen dieser Gemeinden zum Verschwunden gebracht geworden. Nach zwei Tagen kehren wir in die Stadt Buenaventura zurück.

DIGNIDAD Mural in Buenaventura
Der Schrei nach einem würdigen Leben in einem Stadtviertel Buenaventuras (Dignidad=Würde)

Dort besuchen wir mehrere urbane Graswurzelinitiativen, unter anderem auch den Humanitären Raum Puente Nayero. Wir treffen uns mit alten Bekannten und man spürt die Besorgnis über die neue Welle der Gewalt. Während einer dieser Besuche erhält Maru wieder Drohnachrichten auf ihr Handy: Ihre Zeit sei abgelaufen, weil sie den Mund aufgemacht habe. Die Ursachen dieser neuen Welle der Gewalt sind wohl weniger neu und erinnern an 2014: Menschenrechtsverteidiger*innen wie Maru will man zum Schweigen bringen.

Häuser am bzw im Meer
Wohnviertel von Buenaventura am/im Meer

Von der Gewalt betroffen sind hauptsächlich die Viertel, die direkten Meerzugang haben. Vertreibungen in diesen Vierteln häufen sich. Das geht einher mit  Hafenerweiterungsprojekten, die im Raum stehen, wie zum Beispiel ein Flüssiggashafen sowie die Erweiterung des Platzes für Containerschiffe. Diese Probleme sind nicht neu, und im Rahmen des Freihandelsvertrages, der zwischen der Europäischen Union und Kolumbien in Kraft ist, ist der Containerhafen von Buenaventura ein neuralgischer Punkt. Die illegalen bewaffneten Gruppen, die sich zurzeit in Buenaventura bekämpfen, haben sich immer wieder leicht verändert, gehen aber auf paramilitärische Strukturen zurück, die vor über 20 Jahren in die Pazifikregion kamen. In einem kürzlich erschienenen Interview bestätigte der Bürgermeister, dass die „Banden“, wie manche die bewaffneten Gruppierungen in Buenaventura nennen, zur national agierenden illegalen bewaffneten paramilitärischen Gruppe AGC, auch „Clan del Golfo“ genannt, gehören, die unter anderem auch den Drogenhandel kontrolliert. Seit Jahren werden über Buenaventura Unmengen von Chemikalien für die Drogenherstellung, die Drogen selbst und Waffen gehandelt. Dies alles in einer der am höchsten militarisierten Zonen Lateinamerikas. Einer der Hauptverhandler der Friedensverträge von 2016 meinte erst kürzlich, dass er sich eine effektive Umsetzung der Friedensverträge an der Pazifikküste nur dann vorstellen könne, wenn auch im eigenen Haus aufgeräumt wird, also der Korruption Einhalt geboten werde.

Wieder einmal verlassen wir Buenaventura mit einem mulmigen Gefühl. Unter dem anscheinenden Schweigen konnten wir spüren, wie sich gewaltfreier Widerstand zu formieren beginnt und verschiedene Schutzmaßnahmen angedacht werden.

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Nachtrag: Eine Woche nach unserem Besuch wagten sich fast 1000 Jugendliche von Buenaventura, begleitet von mehreren Solidaritätskundgebungen in anderen kolumbianischen Städten, gemeinsam auf die Straße und blockierten einen neuralgischen Verkehrspunkt. Mit dem Hashtag #SOSBuenaventura fordern sie den Einhalt der Gewalt. Und – Gewaltfreiheit ist ansteckend. Wenige Tage später durchzog eine 22km lange Menschenkette von über 80.000 Menschen, die ein Ende der Gewalt forderten, Buenaventura.

Februar 2021

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