Es ist 7 Uhr morgens. Mein Neffe, der heute zu meiner Freude bei mir über Nacht blieb, wird gerade von seinen Eltern zur Schule gefahren. Ich mache mir einen Kaffee und schaue auf mein Handy.
Die Twitter- Alerts zeigen mir einen neuen Artikel über #Kolumbien und #Menschenrechte an, der mein Interesse weckt. Ich fange an, den Artikel zu lesen. Zu Beginn wird auf die in den Statistiken abweichenden, aber in allen Fällen sehr hohen Zahlen von ermordeten Menschenrechtsverteidiger*innen eingegangen. Dann folgt ein Kästchen mit einem eingebetteten Twitter-Post mit einem Video.
Meine innere Kritikerin legt sofort los: „Ach nein, braucht es denn für alles schockierende Bilder und Videos, damit man die Leute erreicht?“. Ich denke an die massiven Reaktionen auf das Bild der toten Flüchtlinge an der mexikanisch – US-amerikanischen Grenze. Ich wunderte mich seit Tagen über die Aufregung um das Bild. „Was haben denn die Leute gedacht, wie das Sterben, die toten Flüchtlinge, von denen uns die Statistiken seit langem berichten, aussehen?“
Während dieser Gedanken, drücke ich auch schon auf „Play“. Es erreicht mich ein Schrei eines ungefähr 10-jährigen kolumbianischen Jungen. Ein langer, lauter Schrei. Der Schrei fährt mir durch Mark und Bein und treibt mir die Tränen ins Gesicht. Am Rande des Videobildes liegt ein Mensch, wahrscheinlich tot.(1)
Nach einigen Runden halbwahnsinnigen Hin- und Hergehens lese ich den Text des Tweets. Das schreiende Kind ist ein Sohn von Maria del Pilar Hurtado, einer kürzlich in Tierralta, Cordoba ermordeten kolumbianischen landlosen Frau und Mutter, die vor ihrem Tod von bewaffneten Gruppen bedroht worden war. Ich hatte bereits von ihrer Ermordung gelesen und das letzte Mal, als ich in, Cordoba war, begleitete ich als internationale Schutzbegleiterin das Begräbnis eines Kleinbauern, der vor den Augen mehrerer Kinder ermordet worden war.
Was hatte ich erwartet? Wie würde ein Kind, das erleben muss, wie ein Elternteil getötet wird, reagieren? Und, laut Statistiken, die ich immer wieder lese, gibt es derer viele in Kolumbien. Ich möchte auch schreien – ganz laut und aus tiefstem Herzen.
Karen, eine kolumbianischen Menschenrechtsverteidigerin aus Buenaventura und Mitglied der Organisation CONPAZ, einer unserer Kooperationspartner in Kolumbien, hat vor wenigen Tagen das folgende Interview mit FOR Peace Presence aufgenommen, in dem sie über die Drohungen gegen sie spricht, und die internationale Gesellschaft bittet, aufzuschreien.
Zum Video HIER (Spanisch mit englischen und spanischen Untertiteln).
Bei unserer bevorstehenden Kolumbienreise werden Irmgard Ehrenberger und ich uns unter anderem auch mit Mitgliedern von CONPAZ treffen, um mit ihnen in persönlichen Gesprächen weitere Unterstützungsmöglichkeiten zu erarbeiten.(2)
Michaela Söllinger
[1]Für alle die den Artikel und/oder das Video selber sehen möchten (ich habe es nicht noch einmal angeschaut): https://www.lamarea.com/2019/06/27/la-sangrante-paz-de-colombia/
[2]Wir danken und freuen uns über vergangene und zukünftige Unterstützungen für die Reise und das Programm Friedenspräsenz in Kolumbien.
Konto: Internationaler Versöhnungsbund, IBAN: AT94 6000 0000 9202 2553