Als Zeug*innen seiner unermüdlichen Arbeit für die Durchsetzung der Menschenrechte und menschengerechtes Zusammenleben in Kolumbien und der ganzen Welt gratulieren wir von ganzem Herzen zur Auszeichnung!
Als ich das erste Mal 2013 in die Friedensgemeinde von San José de Apartadó** kam, war Mello das erste Gemeindemitglied, dem ich begegnete. Er war für die Reittiere zuständig, die notwendig sind, um die verstreuten Dörfer und Felder zu erreichen. Er sprach sehr leise, wirkte schüchtern. Er half mir auf das Maultier, testete noch einmal ob der Sattel festsaß. Bevor er mich losschickte, drehte er sich noch einmal um und sagte leise und doch bestimmt „Lass nie die Zügel los“. Erst später erfuhr ich, dass sein Spitzname „ Mello“ ist, er aber eigentlich German Graciano heißt und er Mitglied des Internen Rates der Gemeinde ist.
In den folgenden Jahren reisten wir oft gemeinsam von Dorf zu Dorf. In den Dörfern und am Wegrand – wo auch immer wir hinritten, tauchten regelmäßig Bauern und Bäuerinnen auf, die mit Mello reden wollten, seinen Rat suchten oder auch einfach nur ein paar Minuten mit ihm verbringen wollten. Wir ritten oft stundenlang, stets war Mello damit beschäftigt, auf die lastentragenden Maulesel zu achten, Menschen zuzuhören und neue Wege aufzuzeigen und Strategien für die Region zu entwickeln. Trotzdem verlor er auch mich nie aus den Augen: wenn ich auch nur eine Minute die Zügel aus der Hand ließ, war er da und ermahnte mich: „Mika, die Zügel!“. Eines Morgens galoppierte das Maultier, auf dem ich ritt, selbstbewusst auf einen Kakaobaum zu, unter dem es wohl Platz hatte, ich aber nicht. In meinem Kopf ertönte das schützende Echo „Mika, die Zügel!“. Sie waren in meiner Hand und ich konnte das Maultier zur Seite reißen. Danke Mello.
Germán Graciano war bereits als Jugendlicher ein eifriges Gründungsmitglied der Friedensgemeinde. In dieser Zeit wurde ein Großteil seiner Familie von bewaffneten Truppen ermordet, so auch sein Vater. Germán setzte von Beginn an seine ganze Energie für die Friedensgemeinde ein und genießt das Vertrauen und die Freundschaft der ganzen Gemeinde. So erhielt er auch eine Führungsposition innerhalb der Gemeinde und es häuften sich die Drohungen gegen ihn. Ende Dezember 2017 wurde er dann vor dem alternativen Kakao-Handelszentrum der Friedensgemeinde Opfer eines versuchten Attentats von Paramilitärs. Die Wahl des Ortes ist symbolträchtig, denn das Handelszentrum zeigt einen alternativen zukunftweisenden Weg für die Region auf, fernab von den neoliberalen Interessen von Wirtschaft und Politik. Germán wurde bei dem Attentat leicht verletzt. Nichtsdestotrotz blieb er in der Friedensgemeinde. Gemeindemitglieder versammelten sich Tag und Nacht um sein Haus, um ihn zu beschützen und ihm beizustehen. Internationale Begleiter*innen gingen ihre Runden. Nur zwei Tage nach dem Attentat, in der Silvesternacht, tanzte auch Mello. Eine Gemeindebewohnerin antwortete auf meine verdutzten Blicke: „Wir haben Angst, aber wir sind zusammen. Wenn wir Neujahrspudding kochen, dann haben wir Angst und können Neujahrspudding essen. Wenn wir keinen Neujahrspudding kochen, haben wir Angst und können keinen Neujahrspudding essen. Wenn wir tanzen, haben wir Angst und wir haben getanzt. Wenn wir nicht tanzen haben wir nur Angst.“***
Obwohl Germán sich wegen ständiger Drohungen in den nächsten Monaten beinahe ausschließlich im Hauptdorf der Friedensgemeinde oder auf Vortragsreisen in Europa aufhielt, konnte er gemeinsam mit dem Internen Rat die Arbeit auf den Feldern und die Besuche in den umliegenden Dörfern weiterhin organisieren. Beide Tätigkeiten sind essenziell, um der Vertreibung der Bauern und Bäuerinnen entgegenzuwirken. Als ich im April 2018 noch einmal in der Friedensgemeinde war, besuchten wir gemeinsam mit Mello und einigen Gemeindemitgliedern umliegende Kakaofelder. Es war wohl das erste Mal seit Monaten, dass er auf einem Feld arbeiten konnte. Seine Fröhlichkeit steckte uns alle an. Danke, Germán.
Michaela Söllinger war von 2013 bis 2018 u.a. mit dem Versöhnungsbund als Internationale Begleiterin in Kolumbien.
*(https://www.premiodefensorescolombia.org/index.php/boletines/87-son-doce-los-finalistas-al-premio-nacional-a-la-defensa-de-los-derechos-humanos-en-colombia)
**Die Friedensgemeinde ist ein Kollektiv von Bauern und Bäuerinnen von mehreren 100 Mitgliedern, das sich seit 1997 im Nordwesten Kolumbiens, inmitten einer von Militärs, Paramilitärs und Guerillas umkämpften Zone, mit Gewaltfreiheit und gemeinschaftlichem Handeln gegen alle bewaffneten Gruppen stellt und sich gegen die Vertreibung von ihrem Land wehrt.
***https://pbicolombia.org/2018/01/08/let-this-year-be-over-2017-be-gone-bad-old-years-eve-good-new-years-eve/