This is Palestine … is this Palestine?

Das ist Palästina … ist das Palästina?

Rezension des Erfahrungsberichtes einer Freiwilligen des Ökumen. Begleitdienstes des Weltkirchenrates für Frieden in Palästina und Israel (EAPPI / www.eappi.org)

Autorin: Dr. Henriette Hanke Güttinger („Ariet“), *1949, Dussnang TG, Schweiz
Erste Auflage 2021
Bezug bei der Autorin: henriettehankeguettinger@gmail.com, € 20,- inkl. Porto
Zeitraum des Einsatzes: April – Juni 2018
Einsatzort: Tulkarem im besetzten palästinensischen Gebiet
Entsendeorganisation: Peace Watch Switzerland

Aus den allgemeinen Medien sind wir es gewohnt, Berichte über die Situation in Israel und Palästina zu bekommen, die von „besonderen Ereignissen“ berichten. Bei einem von Palästinensern verübten Attentat wird meist vor allem über die Verletzten und Toten Israeli berichtet. Als Vergeltung oder Prävention werden Aktionen des Israelischen Militär in Palästinensischem Gebiet dargestellt. In diesen Tagen (Mai 2022) gibt es Berichte über gewaltsame Zusammenstöße am Tempelberg anlässlich des „Jerusalemtages“. Immer steht „herausragende“ Gewalt im Vordergrund. Kaum erfahren wir etwas über Hintergründe, jahrzehntelange Entwicklungen, alltägliches Leben unter der Besatzung oder auch persönliche Haltung von Menschen, die sich gewaltfrei für ein Ende der Besatzung und für nachhaltigen Frieden engagieren.

Eine seltene Ausnahme bildet da die preisgekrönte Dokumentation „The Settlers“ des israelischen Filmemachers Shimon Dotan, die im Mai 2022 im ORF zu später Nachtstunde gezeigt wurde.

Wer viel mehr Wissenswertes erfahren möchte, dem sei der Bericht einer Schweizer Freiwilligen von EAPPI empfohlen. Ariet war im Frühjahr 2018 drei Monate in Tulkarem, einem von sieben Einsatzorten in den besetzten Palästinensischen Gebieten und Jersualem im Einsatz. Sie interessiert sich seit den 1970er Jahren für diese Gegend und engagiert sich für das Schweizer Projekt „Olivenöl aus Palästina“. Ihre Pensionierung als Lehrerin gab ihr die Chance für diesen Einsatz. Mit großer Genauigkeit, reich an Details und mit Zahlen belegt, beschreibt sie die Einsätze ihres Teams als Begleiter und Beobachter an vielen neuralgischen Stellen des Systems der Besatzung. Ohne persönliche Kommentare oder Wertungen abzugeben, erzählt sie von den Mühen der Bauern, die auf dem Weg zu ihren Feldern nur in kurzen Zeitfenstern vom Israelischen Militär durch versperrte Tore durch gelassen werden – oder nach Kontrolle eben auch wieder weg geschickt werden. Schafhirten nahe illegaler jüdischer Siedlungen, Kinder auf dem Schulweg, Familien bei der Olivenernte werden begleitet. An flughafenähnlichen Checkpoints wird die Abfertigung palästinensischer Arbeiter, die als Lohnarbeiter nach Israel wollen, beobachtet.

Bei sehr vielen Besuchen bei palästinensischen Familien erfährt die Freiwillige Geschichten aus dem Leben und erlebt die große arabische Gastfreundlichkeit. Frust und Trauer über zerstörtes und behindertes Leben und ein großer Wunsch nach Leben in Frieden und Freiheit wird erzählt. Von vielen gewaltfreien Aktionen, die sich gegen die Besatzung richten, wird berichtet, wie z.B. dem Prisoner’s Sit-in. Dabei verweilen Angehörige vor dem Büro des ICRC (International Comitee of the Red Cross) in Tulkarem, wegen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsene die ohne Besuchserlaubnis, oft ohne Anklage, eingesperrt sind.

Als Leser lerne ich Neues über die arabische Kultur. Mittels einer gemeinsamen Kassa „Jameyya“ genannt, unterstützen sich Gruppen von Menschen – tlw. reine Frauengruppen –  bei Anliegen, die die finanziellen Möglichkeiten Einzelner übersteigen würden. Monatliche Einzahlungen jedes Mitglieds, unterstützen am Monatsende ein Mitglied.

Interessant sind auch die Ausführungen eines Ortspfarrers über „Kontextuelle Theologie“, in der versucht wird, die Botschaft der Bibel auf dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation lebendig zu machen.

Sowohl in der täglichen Arbeit als auch im begleitenden Bildungsprogramm gibt es Begegnungen mit Menschen israelischer Organisationen, die für ein Ende der Besatzung kämpfen. Viele dieser Israeli werden von der eigenen Gesellschaft verachtet. So sehr ihnen ein nachhaltiger, gerechter Friede ein Anliegen ist, wird doch die große Kluft in der Lebenswirklichkeit und Sicht auf die Situation spürbar. Die „Barriere“ aus Stahl und Beton, die großteils auf palästinensischem Gebiet gebaut wurde, wird auch zu einer „Mauer“ in den Köpfen der Menschen.

Während die Autorin Interpretationen vermeidet, benennt der jüdische Historikers Ilan Pappe im Vorwort dieses reichhaltigen Buches eine erschreckende Deutung. Der israelischen Administration ginge es um eine subtile Balance zwischen Unterdrückung und Widerstand. „Das Leben unter Besatzung … muss erträglich genug sein, um nicht zu einer weiteren Intifada zu ermutigen, aber genügend unerbittlich, damit Menschen die Hoffnung auf ihre Fähigkeiten, die Realität zu verändern, verlieren und in der Folge sogar das Land verlassen,…“. Dies könnte durch die Arbeit der ausländischen Aktivisten, die genau beobachten und ins Ausland berichten, gestört werden meint Ilan Pappe.

Ein herzlicher Dank an Ariet für diese „Störung“ einer lebensverachtenden Situation, die letztlich das physische und psychische Leben aller Menschen in Israel und Palästina schwer beeinträchtigt und zerstört. Auch für das Wohl der jüdischen Bevölkerung Israels ist zu hoffen, daß solche differenzierte Erzählungen über das Leid der palästinensischen Menschen zu einem Erwachen von Zivilbevölkerung und Politik in unseren Ländern führt. Vermutlich kann nur der dadurch entstehende Druck auf die Israelische (und auch Palästinensische) Politik Schritte zu einem Ende des unmenschlichen Besatzungsregimes ermöglichen.

Der Autorin persönlich wünsche ich eine gute Heilung ihrer Fußverletzung, die sie sich in den letzten Tagen ihres Einsatzes zu gezogen hat. Auch dies war nochmals eine Gelegenheit das lokale Gesundheitssystem zu erleben. Technische Mängel werden durch besonderes Engagement, Freundlichkeit und solidarisches Verhalten der Menschen ergänzt.

Andreas Paul